Gröbenzell:Erinnerungen an das Verschwinden der Erinnerung

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Fünf Jahre lang leidet der Vater von Andreas Wenderoth an vaskulärer Demenz. "Ein halber Held" erzählt seine Geschichte. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Andreas Wenderoth liest zum Auftakt der Gröbenzeller Demenzwochen über die Erfahrungen mit seinem Vater

Von Jakob Mandel, Gröbenzell

"Ein halber Held" heißt das Buch, das Andreas Wenderoth geschrieben und aus dem er gerade einige Kapitel vorgelesen hat. Der Titel basiert auf einem Zitat des Vaters von Wenderoth, der an vaskulärer Demenz litt: "Entschuldige mich bitte für meine Inhaltslosigkeit, aber ich bin nur noch ein halber Held." Wenderoth beschreibt in seinem Buch, wie sein Vater und der Rest der Familie mit der Demenzerkrankung umgingen, wie sein Vater sich veränderte und wie er versuchte den Verlust seines Wortschatzes mit Wortneuschöpfungen zu kompensieren.

Vor circa 20 Zuhörern las Wenderoth in intimer Atmosphäre aus seinem sehr persönlich Buch. Der Beginn der Krankheit seines Vaters liege wohl schon weit in der Vergangenheit, ausgelöst etwa durch kleine Schlaganfälle, die manchmal nicht einmal bemerkt worden seien. Ausgebrochen ist die Demenz dann vor fünf Jahren, Wenderoth war in seiner Berliner Heimat auf dem Weg zu seinem Elternhaus, als seine Mutter ihn anrief, weil der Vater auf einmal psychotisch geworden sei und Todesangst habe. Am darauffolgenden Tag - "Sein Schlaf war unsere Erholung", beschreibt Wenderoth die Nacht - habe sein Vater aus dem Fenster des Badezimmers auf die Straße gerufen: "Meine Frau will mich umbringen!" Nach diesem Erlebnis sei er ins Krankenhaus gekommen. Dort sei dann die Diagnose vaskuläre Demenz gestellt worden. "Dein Kopf spielt dir Streiche", erklärte Wenderoth seinem Vater verharmlosend die Krankheit.

Mit dieser Beschönigung sei er aber nicht weit gekommen. Sein Vater habe immer noch klare, reflektierte Phasen gehabt und daher gemerkt, dass etwas mit ihm nicht stimmt: "Bin ich ein Halbidiot?" Die Demenz habe dann aber auch einen kreativen Effekt gehabt. Wenderoths gutes Händchen für Frauen beschrieb sein Vater als "gute Rockwahl" und da Weltnachrichten nun für ihn nicht mehr begreifbar waren, unterhielt er sich tief greifend über das Wesen von Hausschuhen. Pfleger und Pflegeheime schätzte Wenderoths Vater immer gering, als Symptom seiner Krankheit und provoziert gefühlt von ihrer Jugend. Um einem Kurzaufenthalt im Pflegeheim zu entgehen, habe er starke Herzschmerzen vorgespielt und den Pflegekräften hielt ständige Unpünktlichkeit vor, obwohl er keine Termine außer dem täglichen Gang auf die Terrasse mehr hatte. Nur zu einem Pfleger habe sich ein positives Verhältnis entwickelt; René mit seinem ruhigen und klarem Naturell habe er gemocht: "Sie sind mir sympathisch." Der Vater starb im Alter von 87 Jahren vor etwa einem Jahr. Wenderoth habe sich schon viele Male davor von ihm verabschiedet.

Mit Wenderoths Lesung, die von der Gemeindebücherei und der Volkshochschule Gröbenzell veranstaltet wurde, fiel der Startschuss für die Gröbenzeller Demenzwochen unter dem Motto "Gemeinsam mittendrin, statt nur dabei!". Bürgermeister Martin Schäfer (UWG) und die Referentin des Kreistages für Senioren und Demografie, Sonja Thiele (CSU), betonten, dass sie mit dieser Aktion das Thema Demenz ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken wollen. Schäfer, der in der eigenen Familie Erfahrungen mit Demenzkranken gemacht hat, wie er erzählt, appellierte an alle: "Wir sollen uns wegen Demenz nicht schämen." Im Landkreis lebten etwa 40 000 Menschen mit Demenzerkrankung, die zum Großteil von Angehörigen gepflegt würden, so Thiele, die Schirmherrin des Projekts ist. Kranke und Pfleger sollten keine soziale Isolation fürchten müssen. Dazu seien die Demenzwochen gedacht, so Thiele und Schäfer unisono.

© SZ vom 26.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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