Gröbenzell:Die Kunst des Interviews

Lesezeit: 3 min

Als gelernter Zuhörer lässt Giovanni di Lorenzo das Publikum entscheiden, welche Geschichte er lesen soll. (Foto: Günther Reger)

Unterhaltsamer Abend mit Giovanni di Lorenzo in Gröbenzell

Von Karl-Wilhelm Götte, Gröbenzell

Auch Journalisten sind lernfähig. Den 170 Besuchern im voll besetzten Gröbenzeller Stockwerk erzählt Giovanni di Lorenzo, 56, von seinen ersten missglückten Versuchen als Interviewer. Er hatte vor 30 Jahren als Fernsehmoderator begonnen und wollte Zuschauer und sein eigenes Umfeld mit scharfen Interviews beeindrucken. An so viel überbordende Eitelkeit erinnert er sich heute mit Grausen. Die "Achillesferse" des zu interviewenden Menschen will der Chefredakteur der "Zeit" und Mitherausgeber des Berliner "Tagesspiegel" mit schon längst nicht mehr treffen.

Als Zeitungsjournalist habe di Lorenzo, der Sohn eines Italieners und einer Deutschen, gelernt, während des Interviews mit guter Vorbereitung eine Stimmung zu erzeugen, in der der Gegenüber ihn in seine Karten schauen lasse "und ich von ihm eine Überraschung empfangen kann", so di Lorenzo. Zusammengefasst hat er die Texte 2014 in seinem Interviewbuch "Vom Aufstieg und anderen Niederlagen - Gespräche mit Zeitgenossen." Im Stockwerk sitzt Di Lorenzo vorne an einem kleinen Holztisch im gleißenden Scheinwerferlicht. Welche Interviews wird er für seine Lesung auswählen? Er wählt nichts aus, sondern wendet sich an sein Publikum, das per Abstimmung seine Präferenzen mitteilen soll. Im Nu schafft di Lorenzo mit dieser unerwarteten Basisdemokratie den sympathischen Kontakt, die Nähe zu den Besuchern und fesselt sie die nachfolgenden zwei Stunden.

Giovanni di Lorenzo nennt dem Publikum nacheinander die Namen der interviewten Zeitgenossen. Spiegel-Herausgeber Augstein, Petra Kelly, Merkel als damalige Generalsekretärin der CDU, einen türkischen Schuhputzer, der Friedrich Nietsche gut findet, Berlusconi, Filmregisseur Helmut Dietl, Helmut Schmidt, Bundespräsident Joachim Gauck, den gescheiterten Guttenberg, die 90-jährige Auschwitz-Überlebende Renate Lasker-Harprecht, Boris Becker, Monika Lierhaus oder das brandneue Interview mit Filmemacher Bully Herbig. Di Lorenzo will gesehen haben, dass das Votum für Gauck, den türkischen Schuhputzer am Hamburger Flughafen und für Bully Herbig ausfiel.

"Lierhaus, Dietl und Herbig haben sich selbst bei mir gemeldet und um ein Interview gebeten", erzählte di Lorenzo noch. "Man darf dabei nicht auf ihr Kalkül hereinfallen", merkte er noch an, weil er spürte, dass manche Zuhörer an ein Gefälligkeitsinterview dachten. Merkel als Generalsekretärin erhielt beim Basisvotum nur wenige Stimmen, Boris Becker lediglich zwei. "Als ehemaliger Nationalheld hat er sich jegliche Reputation verscherzt", erzählte der Autor, dass Becker nie zum Zuge käme. Das Gauck-Interview ist im Mai 2012 entstanden; zwei Monate vorher war Gauck zum Bundespräsidenten gewählt worden. "Heute würde er nur noch ein Drittel von dem rauslassen", spekulierte di Lorenzo, der seine steile Zeitungskarriere einst bei der Süddeutschen Zeitung (1987-1999) begann.

Printinterviews werden von den Gesprächspartnern autorisiert. Sie können Streichungen und Korrekturen vornehmen. Manchmal bleibt zum Verdruss des Interviewers nichts Lesenswertes mehr übrig. Gauck ließ offenbar nicht zu viel streichen. Di Lorenzo teilte noch mit, dass Gauck damals in Tränen ausbrach, als es um Israel und dem Holocaust ging. Wesentlich amüstierter waren die Zuschauer vom Interview mit dem türkischen Schuhputzer Halil Andic, 38, aus dem Jahre 2008. Nicht nur weil dieser mit relativ wenigen Deutschkenntnissen versucht hatte Nietsche zu lesen, sondern auch weil Halil sich öffnete. "Sind sie glücklich?", stellte di Lorenzo eine Frage, die ein im Beruf erfolgreicher Deutscher einen Schuhputzer wohl fragen muss. Halil Andic, mit einer deutschen Frau verheiratet, bejahte das und sagte dann den bemerkenswerten Satz: "Wer sich selbst gar nicht liebt, kann auch keinen andere lieben."

Michael "Bully" Herbig ("Der Schuh des Manitu") hatte in seinem Interview Interesse daran zu verkünden, dass für ihn als Filmemacher bald Schluss mit lustig sein wird und er sich ganz dem ernsthafteren Genre zuwenden will. Herbig, 47, will demnächst die Geschichte der Flucht zweier DDR-Familien mit dem Heißluftballon neu verfilmen. Di Lorenzo transportierte diese Marketingbotschaft und erfuhr dafür im Gegenzug, dass Herbig ohne Vater aufgewachsen ist und von der Münchner Filmhochschule, wo er heute Dozent und Studentenbetreuer ist, einst abgewiesen wurde. Di Lorenzo trug die Texte eher nüchtern vor, übertrieb es nicht mit der Betonung, so dass Frage und Antwort manchmal nicht zu unterscheiden waren. Trotzdem war es für die Zuhörer ein kurzweiliger und interessanter Abend.

© SZ vom 24.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: