Gröbenzell:Arm, aber glücklich

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Nach der Ankunft in Gröbenzell verbessert sich das Leben der elfjährigen Schlesierin Renate Zierer schlagartig. Der Zusammenhalt in der neuen Nachbarschaft wiegt die Entbehrungen auf

Von Gerhard Eisenkolb, Gröbenzell

Siebzig Jahre nach der Flucht aus Habelschwerdt bei Breslau in Niederschlesien fällt es Renate Zierer immer noch schwer, über ihre damaligen Erlebnisse zu sprechen. Ihre schwerkranke Großmutter hat den Transport in einem Bettlägerigen vorbehaltenen Viehwaggon nach Dresden nicht überlebt. Ihrer Mutter gelang es im Herbst 1945 bei den vielen Stopps des Flüchtlingszugs auf freiem Feld irgendwie Wasser für ihre drei Kinder zu besorgen, wovon die Tochter noch immer beeindruckt ist. Wie lange die Zugfahrt dauerte, weiß die damals neun Jahre alte Gröbenzellerin nicht mehr. Nur so viel: Die Familie, also die Mutter, eine Tante der Mutter, sie und ihre beiden drei und vier Jahre jüngeren Brüder kauerten sich die ganze Zeit in einer Ecke des Waggons zusammen. Und man fuhr getrennt vom Opa, der seiner todkranken Frau beistand.

Dafür erinnert sich Renate Zierer umso genauer daran, dass bei den Stopps des Zugs regelmäßig Menschen verloren gingen - und der Platz zum Liegen nicht reichte. Besonders eingeprägt hat sich ihr eine Szene: Eine verzweifelte Frau versuchte vergeblich, den schon fahrenden Zug noch zu erreichen, in dem sich alles befand, was ihr noch geblieben war.

Kommt die Sprache auf ihre Mutter, ist die 79-Jährige jedes Mal gerührt. Die Mutter war jemand, den man heutzutage als Powerfrau bezeichnen würde - und wohl eine Pragmatikerin. Da die Familie nur mitnehmen durfte, was sie tragen konnte, nähte die Mutter aus festen Tischdecken praktische Umhängesäcke, in denen sich viel mehr verstauen ließ als in Koffern. Eine dieser Stofftaschen hängte sich die Mutter sogar um den Hals. So konnte sie mehr tragen und sich besser ohne ihren Mann um die drei Kinder kümmern. Noch etwas packte die Mutter ein, was sich in der ersten Zeit in Dresden und später in Leipzig als überlebensnotwendig erwies: einen Sack getrockneter Bohnen. Das war die eiserne Lebensmittelreserve. "Raffiniert" nennt Renate Zierer, wie ihre Mutter Bargeld versteckte. Es wurde in Schuhsohlen eingenäht, im Hohlräumen von Kleiderbürsten verborgen und verschwand in der Füllung der einzigen Bettdecke des Gepäcks. Dem Großvater, der sich vom Kutscher zum Inhaber einem Gaststätte hochgearbeitet hatte, fiel es schwer, sein Lebenswerk zurückzulassen. Ein stattliches Gasthaus mit moderner Flaschenbierabfüllanlage und einer eigenen Produktion von Limonade (Sinalco) und Coca Cola, letzteres durften die Kinder nie trinken.

Arbeit fanden sie im Staatsforst, Hühner und Kleinvieh hielten sie zur Selbstversorgung. (Foto: Gemeindearchiv Grafrath/oh)

Ihre Fluchterlebnisse der Nachkriegsjahre teilt Renate Zierer in zwei Abschnitte ein, die von ihrer Wahrnehmung her gegensätzlicher nicht sein könnten. Hart, entbehrungsreich und mit Demütigungen verbindet sie die ersten eineinhalb Jahre in Sachsen. Erst mit der Ankunft in Gröbenzell ist alles besser geworden, sagt sie rückblickend.

Die ersten Wochen in Sachsen verbrachte die Familie in einem Flüchtlingslager im ausgebombten Dresden, wo Frauen Trümmer beseitigen mussten. In Leipzig lebten die Flüchtlinge nach dem Verlassen eines Massenquartiers in einem Ballhaus wenigsten wieder in einer richtigen Wohnung. Wenn auch als Zwangseinquartierte bei einer Hausbesitzerin, die ständig etwas an den ihr aufgezwungenen Mitbewohnern auszusetzen hatte. Das war auch die Zeit, in der die Schlesier immer wieder abfällig als Flüchtlinge beschimpft wurden.

Als der aus Polen zu Frau und Kindern gestoßene Vater zur Zwangsarbeit in einem Bergwerk verpflichtet werden sollte, was er wohl nicht überlebt hätte, wie die Tochter meint, setzte sich der Schwerkranke "schwarz" über die Grenze nach Bayern ab. Später folgten ihm Frau, Kinder und die Tante der Mutter.

Erst 1947 wurde in Gröbenzell alles schlagartig besser, beteuert die 79-Jährige. Die Familie fühlte sich angenommen und gut aufgenommen, was nicht nur an den Lebensumstände lag. Die blieben für Einheimische wie Flüchtlinge schlecht. Arm war die Familie noch immer, obwohl der Vater, der Bauingenieur war, eine Anstellung bei einem Stromversorger fand. Wegen einer Lungentuberkulose fiel der Vater lange als Ernährer aus. Er verbrachte vier Jahre in einem Krankenhaus. Es gab in Gröbenzell auch nicht unbedingt mehr Wohnraum. So verteilte sich die Familie nach der Ankunft zum Schlafen auf zwei Häuser. Obwohl die Schlesier zuerst bei der Großmutter von Renate Zierer unterkamen, die schon zu Beginn der Vierzigerjahre nach Oberbayern gezogen war, benötigte sie dafür eine Wohnungszuweisungsschein. Auch die Betten reichten nicht für alle. Die beiden Brüder von Renate Zierer teilten sich ein Bett, ihr selbst blieb nur ein viel zu kurzes Kinderbett, in dem sie sich nicht richtig ausstrecken konnte. Wer mit einem Feldbett vorlieb nehmen musste, war auch darüber froh. In der ersten Zeit zog die Familie in Gröbenzell mehrmals um. Da das Wohnungsamt regelmäßig dem Drängen der lästigen Mutter nachgab, verbesserten sich die Lebensumstände von Mal zu Mal etwas. Nach mehreren Zwischenstationen konnte in der Gärtnerstraße die erste, etwa vierzig Quadratmeter große eigene Zweizimmerwohnung mit einer kleinen Küche bezogen werden. Da es auch einen kleinen Garten gab, reichte der Platz, um Hasen zu halten, die im Kochtopf landeten.

Hauptsache ein Dach über dem Kopf: Noch Anfang der Fünfzigerjahre wohnten in Grafrath in Baracken elf Familien von Heimatvertriebenen in 29 Räumen. (Foto: Gemeindearchiv Grafrath/oh)

"Wir haben kein Geld gehabt", berichtet Renate Zierer. In ihrer Not lief ihre Mutter regelmäßig zu Fuß zum Arbeiten auf einem Bauernhof durchs Moos nach Bergkirchen, von dem sie vor allem eines mitbrachte: das Hauptnahrungsmittel Kartoffeln. Um ihre Schuhsohlen zu schonen, machte sich die Mutter barfuß auf den Weg ins Gröbenzeller Ortszentrum. Ihre Schuhe trug sie auf dem Arm, bis sie den Grünen Baum erreicht hatte, erst dann zog sie sie an.

Mit Heimarbeit verdiente sich die Mutter etwas dazu. Da sie schneidern und nähen konnte, fertigte sie zuerst daheim in Handarbeit modisches Zubehör für Hochzeitskleider an, später tat sie das in einem kleinen Betrieb in Gröbenzell. Um die drei Kinder kümmerte sich die bei der Familie lebende Tante. Der Zusammenhalt mit der Nachbarschaft, die auch nicht unbedingt mehr hatte, entschädigte für so manche Entbehrung. Da die Flüchtlingsfamilie zuerst nur zwei Zimmer und keine Küche hatten, durfte die Mutter bei einer Familie in der Nachbarschaft kochen. Der Mann war Künstler, dessen Frau stickte der Elfjährigen Renate eine Bluse, erinnert sie sich. Man half sich eben aus.

Nach der Ankunft in Gröbenzell besuchte Renate Zierer für einige Wochen die Volksschule in Gröbenzell. Da der Schulbesuchs des Flüchtlingskinds und damit ihr Wissen lückenhaft war, gab eine Lehrerin Nachhilfeunterricht, unentgeltlich wie Zierer meint. Die Lehrerin hatte sich in den Kopf gesetzt, ihren Schützling auf die Oberschule zu schicken. Das klappte auch. Die spätere Bankangestellte beteuert, in Gröbenzell nie als Flüchtlingskind beschimpft oder gar schlecht behandelt worden zu sein. Wie gut sie aufgenommen wurde, beschreibt sie an einem Beispiel. Obwohl Renate Zierer in der Gröbenzell nur für einige Wochen die Volksschule besuchte, trifft sie sich noch regelmäßig mit den ehemaligen Mitschülerinnen.

© SZ vom 07.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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