Geistliche im SZ-Interview:"Die ständige Enttäuschung wiegt schwer"

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Erneut feiern die Christen auch im Landkreis Weihnachten unter den Bedingungen der Corona-Pandemie. Der katholische und der evangelische Dekan rufen zu Achtung und Respekt auf, warnen aber auch vor übertriebenen Erwartungen

Interview von Ingrid Hügenell, Fürstenfeldbruck

Die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Pandemie hat sich vorerst zerschlagen. Viele Menschen fühlen sich am Ende ihrer Kräfte. Kann der Glaube, können die Kirchen da helfen? Und wie geht es eigentlich den Pfarrern selbst? Die SZ hat den katholischen und den evangelischen Kreisdekan, Martin Bickl und Markus Ambrosy, dazu befragt.

Schon zum zweiten Mal müssen wir Weihnachten unter Pandemie-Bedingungen feiern. Wie kann es gelingen, die Zuversicht zu behalten?

Bickl: Ich denke, dass wir in unserer Gesellschaft mehr versuchen könnten, dass die Menschen mit ihren so unterschiedlichen Überzeugungen in einem konstruktiven Dialog sich gegenseitig ernster nehmen sollten, weil erst dadurch wirkliche Gespräche und Austausch ermöglicht werden.

Ambrosy: Was meines Erachtens an Corona zermürbt, ist der Umgang damit. Mehr Aufrichtigkeit der Verantwortlichen, die klarstellen, dass letztlich nicht wir die Pandemie, sondern die Pandemie uns im Griff hat, würde falsche Hoffnungen auf rasche Abhilfe gar nicht erst aufkommen lassen. Denn die ständigen Enttäuschungen wiegen mindestens so schwer wie die Krankheit.

Wie hilft Weihnachten dabei?

Bickl: Die biblische Erzählung von den Sterndeutern aus dem Osten, die dem Stern folgen und das Kind in Betlehem finden, zeigt, wie wichtig auch der Austausch im Gespräch miteinander ist, weil sie sonst nicht miteinander ankommen werden. Mich beeindruckt aber auch, dass neben den Sterndeutern auch die Hirten ihren Platz bei dem Kind in Betlehem finden. Da sind Männer, Frauen und Kinder versammelt, Menschen aus Nah und Fern, auch einfachere und gebildete Menschen. Ihnen allen gilt letztendlich die Botschaft des Friedens an diesem Fest. Und diese Botschaft fordert uns auch in unseren Familien und Gemeinden heraus.

Ambrosy: Ich bin da sehr zurückhaltend. Weihnachten ist keine Reparaturveranstaltung für eine ausgelaugte Gesellschaft; das war es übrigens noch nie. Man sollte mit seinen Erwartungen an Weihnachten eher zurückhaltend sein, um hier nicht noch mehr Enttäuschung zu produzieren.

Welchen Beitrag kann der Glauben nach Ihrer Erfahrung dabei leisten?

Bickl: Wenn ich die Begegnungen Jesu mit Menschen anschaue, sehe ich die Achtung, den Respekt, den Zuspruch und das Aufrichten von kranken und schwachen Menschen. Die Orientierung an seinem Beispiel hilft sicher weiter

Markus Ambrosy (im Bild) und Martin Bickl setzen gegen die Corona-Erschöpfung auf Gespräche, in denen sie sich den Frust von der Seele reden, und auf Bewegung an der frischen Luft. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Ambrosy: Nüchtern gesehen spielt der christliche Glaube an Weihnachten nur für einen eher geringen Prozentsatz eine Rolle. Längst ist es eine Reihe von Feiertagen geworden, in der eine säkulare Gesellschaft eigene Inhalte setzt, insbesondere den Konsum. Deren Beitrag zur Bewältigung einer Krise ist für mich nicht recht erkennbar. Für glaubende Menschen ist Corona nicht leichter zu tragen, ihr Glaube hilft ihnen aber, es zu ertragen.

Ihr Rat zur Vermeidung von Infektionen: Worauf sollte man sich eher verlassen - auf die Wissenschaft, sein Immunsystem oder Gott?

Bickl: Ich finde in unserem Leben eine gute Portion Gottvertrauen sehr hilfreich. Gott hat uns aber auch einen Verstand gegeben, um auf die Erkenntnisse der Wissenschaft zu hören und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.

Ambrosy: Das ist für mich keine 'oder', sondern eine 'und' Frage. Auf den Rat der Mediziner hören, selbst etwas für seinen Körper und seine Abwehrkräfte tun und auch für seine Seele sorgen, das gehört für mich alles zusammen.

Hat die Pandemie die Menschen eher näher zum Glauben und zur Kirche gebracht oder haben sie sich eher davon entfernt?

Bickl: Ich denke, dass viele Menschen in den Herausforderungen dieser Zeit Fragen nach dem Sinn des Lebens und damit auch Glaubensfragen neu gestellt haben. Manche Beerdigungen in kleinem Kreis waren da sehr intensive Erfahrungen. Aber auch Erstkommunionen, Firmungen und Trauungen mit neuen Erfahrungen kleinerer Feiern konnten durchaus vieles noch deutlicher vermitteln als manche Massenveranstaltungen in der Vergangenheit. Das alles mag nicht darüber hinwegtäuschen, dass Enttäuschungen über die Kirche aus sehr unterschiedlichen Gründen dazu führen, dass Menschen sich unserer Kirche entfremden oder sich die Kirche den Menschen entfremdet.

Ambrosy: Früher hieß es 'Not lehrt beten', und die Kirchen waren voll. Ob in unserer Zeit Corona Menschen den Glauben nähergebracht hat? Wegen der Corona-Einschränkungen dürfen Kirchen nicht voller werden, deshalb fehlt mir hier ein Anhaltspunkt. Auch die Kontakte mit Menschen sind deutlich weniger geworden, das macht eine Einschätzung schwerer. Ich kann also im Moment keine Entwicklung in die eine oder andere Richtung erkennen.

Wird es Weihnachtsgottesdienste geben? Und unter welchen Voraussetzungen?

Dass an Weihnachten Gottesdienste stattfinden können, halten die Dekane für enorm wichtig. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Bickl: Die Pfarrgemeinden entscheiden - Stand: 4. Adventswochenende - darüber, ob sie Gottesdienste mit weniger Leuten und Abständen zu Personen aus anderen Haushalten feiern wollen oder die Gottesdienste nach 3-G-Kriterien oder ähnlichem durchführen. Ich empfehle, sich da vor Ort auf der Homepage des jeweiligen Pfarrverbandes oder der jeweiligen Pfarrei zu erkundigen.

Ambrosy: Grundsätzlich wird es in allen Gemeinden Weihnachtsgottesdienste geben - oftmals im Freien, um möglichst vielen eine Gelegenheit zum Besuch zu bieten. Das ist eine gute Nachricht, da letztes Jahr alles entfallen musste.

Wie wichtig ist es Ihnen und den Gläubigen, dass sie stattfinden können?

Bickl: Vielen Menschen und auch mir sind diese Gottesdienste wichtig und sie sind nach aller Erfahrung keine Pandemietreiber.

Ambrosy: Die christlichen Feste im Jahreskreis sind enorm wichtig für Gemeinden. Sie geben der Welt des Glaubens Struktur und Inhalt. Und Weihnachten ist, gelegentlich muss man daran erinnern, zunächst und vor allem eines der zentralen christlichen Feste mit einem besonderen geistlichen Inhalt.

Bemerken Sie die oft zitierte "Spaltung der Gesellschaft"? Woran?

Bickl: Viele Menschen reden übereinander, über "die Geimpften" und "die Ungeimpften" und so weiter, werfen den anderen viel vor und schaffen es nicht, miteinander ins Gespräch zu kommen.

Ambrosy: Gegenfrage: Waren wir als Gesellschaft je homogen? Ich glaube nein, nur dass das Disparate inzwischen blitzschnell und flächendeckend medial verbreitet wird. Insbesondere Social Media sind hier Segen und Fluch zugleich.

Wie gehen Sie mit Menschen um, die Verschwörungsmythen verbreiten?

Bickl: Da erlebe ich mit dem, was ich auf die vorherigen Fragen geantwortet habe, auch meine Grenzen, weil ich oft völlig anderen Sprach- und Denkwelten begegne. Das macht Dialog insofern unmöglich, weil man aneinander vorbeiredet und sich nicht versteht. Solche Erfahrungen von Grenzen, wo ich nicht weiterkomme mit Versuchen zu reden, sind schmerzhaft.

Ambrosy: Zunächst hat jeder Mensch das Recht, mit seinen Vorstellungen ernst genommen zu werden. Als Mensch, nicht unbedingt mit seiner Meinung. Letztlich, so meine Erfahrung, geht es bei Verschwörungstheoretikern ganz oft um ganz andere Themen im Hintergrund, fast immer sind es tief sitzende Ängste. Aber ehrlich gesagt kostet es mich gelegentlich schon Mühe, mich hier auf jemanden einzulassen. Nicht zuletzt unterliege auch ich massiven Einschränkungen, weil es Menschen gibt, die sich nicht impfen lassen wollen.

Was gibt Ihnen selbst Kraft in dieser Zeit, in der viele Menschen zunehmend erschöpft sind?

Bickl: Mir ist der Ausgleich wichtig, Radfahren, wenn es nicht gerade regnet oder schneit, oder auch Spazierengehen, Begegnungen mit meiner Familie, in Präsenz oder auch mit allen möglichen Medien

Ambrosy: Dass es auch für mich allmählich sehr mühsam wird, will ich nicht leugnen. Ich fühle mich im Moment wie auf den letzten zehn Kilometern beim Marathon. Was in diesen Zeiten fehlt, sind alle Möglichkeiten der Zerstreuung, Ablenkung, Ortswechsel. Corona kriecht aus jeder Ritze. Mir hilft dann, mir ab und zu den Frust von der Seele zu reden, viel frische Luft und Bewegung. Und manchmal setzte ich mich unter der Woche ganz still in die letzte Reihe unserer Erlöserkirche und denke mir, was dieser Raum in seinen bald hundert Jahren alles an "Not und Ach"' gehört haben mag. Und das Leben ist auch weiter gegangen.

© SZ vom 24.12.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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