Fürstenfeldbruck:Zufällig am Leben geblieben

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Abba Naor erinnert sich an die Gräuel der Naziherrschaft. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Schüler der Berufsschule begegnen einem Zeitzeugen. Abba Naor erzählt ihnen vom Grauen in Ghetto und KZ

Von Julia Bergmann, Fürstenfeldbruck

Abba Naor hat ihn gesucht. Er hat Ausschau gehalten, nach einen Gott, an den er glauben kann. "Ich beneide jeden, der gläubig ist", sagt der kleine, grauhaarige Mann, in dessen Gesicht das Leben tiefe Linien gezogen hat. "Ich wusste nie, an wen ich glauben sollte. Ich habe geschaut nach ihm. Nur er war nicht da", sagt er. Abba Naor, 1928 in Kaunas in Litauen geboren, erzählt aus seinem Leben. Er erzählt davon, wie er mit seiner Familie während des Zweiten Weltkriegs in ein jüdisches Ghetto ziehen musste, davon, wie er später in den Konzentrationslagern Stutthof bei Danzig, Utting am Ammersee und Kaufering Gräueltaten, Schikane und Hunger überlebt hat. Seine Zuhörer sind die Schüler dreier Klassen der Brucker Berufsschule. Er hält keinen Vortrag, sagt er. Es ist ihm wichtig, das zu betonen. "Vorträge halten Professoren, Gelehrte. Ich bin kein Gelehrter, ich habe nie studiert." Naor ist direkt, ein Mann, der nicht stumm bleibt, der sich nicht in falscher Bescheidenheit zurückhält. "Es ist kein Märchen, was ich erzähle, es ist mein Leben", sagt er. Man wünschte, er würde lügen.

Das Leben steckt voller Zufälle. "Mein Zufall war, dass ich zufällig am Leben geblieben bin", beginnt er. In Kaunas, seiner Heimat, lebte man nicht einfach nur nebeneinander her, man lebte miteinander. Naor zeichnet ein Idyll, das 1933 bereits zu bröckeln begann. Machtergreifung, Bücherverbrennung, Hassparolen. "Kauft nicht von Juden, hieß es damals", erzählt Naor. So hat es angefangen. 1939 marschierten die Nazis in Polen ein, wenig später wurde Litauen von den Sowjets besetzt. "Ganz früh wurde Kaunas bombardiert. Ohne Vorwarnung", erinnert er sich. Es wurde nach Schuldigen gesucht, nach jemanden, den man dafür verantwortlich machen konnte. "Schuldige hat man schnell gefunden, es waren die Juden", sagt Naor. Er erzählt von der Flucht nach Vilnius, von seinen Eltern, seinen beiden Brüdern, von den Toten und Verletzten, die sie auf dem Weg sahen. Zwar konnte die Familie nach Kaunas zurückkehren, aber der Ort war ein anderer geworden.

"Am Straßenrand sah ich eine Nachbarin. Ich habe mich gefreut, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Sie weniger", sagt Naor. Die Juden kommen zurück, hat sie gerufen. "Ich - als 13-jähriger Junge - wusste nicht, dass ich ,die Juden' bin", sagt Naor. Kein Groll liegt in der Stimme, er sagt es fast scherzhaft. Ein Mann, der Frieden geschlossen hat, könnte man meinen. Nur manchmal taucht über seinen Augenbrauen eine kleine Furche auf. Der Schmerz ist nie gegangen.

Die Bilder von Juden, die in den Wald getrieben und erschossen, in Synagogen gesperrt und angezündet wurden, sind geblieben. Schikane und Verbote bestimmten fortan das Leben. Einkaufen durfte man im Ghetto nur zu bestimmten Zeiten. Eines Tages schickten die Erwachsenen ihre Kinder außerhalb dieses Zeitraums. "Sie sagten, was soll schon passieren, die werden doch keine Kinder erschießen. 26 Kinder sind geschnappt worden, sie wurden noch am selben Tag erschossen. Darunter war auch mein Bruder." Dass er nie zurückkommen würde, konnte die Familie nicht glauben. "Im Ghetto war alles verboten, nur nicht die Hoffnung. Also hofften wir sehr lange."

Es schmerzt, wenn Naor davon erzählt, wie seine Familie zerrissen und in verschiedene Lager gebracht wurde. Wenn er von denjenigen erzählt, die wie Müll aussortiert wurden und von "den Wichtigen", die per Fingerzeig darüber entschieden haben, wer leben darf und wer sterben muss. Und es ist schwer zu ertragen, wenn er sich an den schlimmsten Moment im KZ zurückerinnert. "Am 26. Juli 1944 sah ich meine Mutter das letzte Mal", erzählt er. Sie ging in einer Gruppe von Frauen und Kindern, sie hatte den kleinen Bruder an der Hand. "Sie sind alle nach Auschwitz transportiert und vergast worden." Bis heute treibt Naor der Gedanke an diesen Moment um, er hat ihn niemals losgelassen. "Ich weiß nicht, wie es war in den Gaskammern. Hat sie meinen Bruder an der Hand gehalten? Hat sie ihn in die Höhe gehoben, damit er noch ein bisschen länger am Leben bleiben konnte? Ich weiß es nicht."

Als Naor aufhört zu sprechen, bleibt es einen Augenblick lang still. Dann sprudeln die Fragen der Schüler. "Glauben Sie an Schicksal?" Nein, an Zufall. "Fragen Sie sich oft, was wäre wenn?", will eine Schülerin wissen. Naor versteht nicht. "Meinen Sie, ob es eine Alternative gegeben hätte? Die Alternative wäre der Tod gewesen, mein Kind. Ob es besser gewesen wäre, weiß ich nicht." Ein Schüler will wissen, ob Naor jemals daran gedacht habe, aufzugeben. "Es hat nicht pressiert, junger Mann. Der Tod war ja immer da. Und wenn ich mir meine fünf Enkel und acht Urenkel anschaue, habe ich doch recht gehabt. Jeder ihrer Geburtstage ist mein persönlicher Triumph über die Nazis", sagt er.

Ein Mädchen atmet laut aus. Weiter hinten sitzt ein Junge, seine Brillengläser sind beschlagen.

© SZ vom 08.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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