Fürstenfeldbruck:Wie 2020

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Aktueller Text: Kerstin Krefft und Alexander Schmiedel lesen aus dem "Ewigen Spießer". (Foto: Günther Reger)

Wegen der Pandemie bringt die Neue Bühne Bruck Ödön von Horvaths Stück "Der ewige Spießer" als szenische Lesung heraus. Die hat viele Zuschauer verdient, denn die präsentierten Typen und Dialoge gibt es noch immer

Von Sonja Pawlowa, Fürstenfeldbruck

Den Vorabend des Tags der Deutschen Einheit als Premierentag zu wählen, hätte durchaus ein Glücksgriff sein können. Die Auswahl des Textes und die schwungvolle Bühnenpräsentation waren zweifelsohne ein Glücksgriff. Unterhaltsamer, eindringlicher, witziger oder böser kann man sich der deutschen Geschichte nämlich gar nicht nähern als mit Ödön von Horváths "Der ewige Spießer". Der Roman spielt 1929, doch fühlt es sich an wie 2020. Die Typen, die Dialoge sind wiedererkennbar. Bis heute unverändert herrscht der Kampf ums Geld. Selbst die Schauplätze sind die selben geblieben. Von der Schellingstraße bis nach Feldafing. Nur, dass am Marienplatz keine Autos mehr fahren.

Schade, dass das Publikum nicht so zahlreich wie erwartet erschien. Mag sein, dass der Feiertag zu einem Kurzurlaub in den Bergen verlockte. Oder es gab Verwirrung beim Kauf der Eintrittskarten mit dem neu angelegten Ticketsystem. Wegen der Abstände werden statt 99 Besuchern ohnehin nur noch 40 eingelassen. Wer Angst vor Ansteckung hat, sollte unbesorgt sein.

Der gesamte Spielplan 2020 wurde im März über den Haufen geworfen. Regie, Schauspieler, alles war fix. Und dann das Nichts. "Lassen wir es halt bleiben, war da ein Gedanke," sagt Alexander Schmiedel, der erst im Herbst 2019 die Leitung der Neuen Bühne Bruck übernommen hat. Aber nach dem Schock kamen gleich die ersten Ideen: "Machen wir halt was Neues".

Mit "Der ewige Spießer" als szenische Zwei-Personen-Lesung ist der Neueinstieg in den Corona-Herbst vortrefflich gelungen. Die Betonung liegt auf "szenisch", denn Szenen des Romans werden nicht nur gelesen, sondern gespielt. Alexander Schmiedel stellt durchgehend die Hauptfigur des ersten Teils, Alfons Kobler, dar. Der sieht sich als Kaufmann und tut, was ihm nützt. Ungeniert verkauft Kobler das Schrott-Kabriolett seiner 20 Jahre älteren Sugar-Mummy-Geliebten an einen Rosenheimer Käsehändler und behält die 600 Mark für sich.

Das ist der Ausgangspunkt der Kobler-Geschichte. Kobler ist kein böser Mensch. Er ergreift Chancen und will was aus sich machen. Auch aus dem kleinen Startkapital will Kobler mehr machen. Dabei stellt sich schon gleich am Anfang heraus, dass Koblers Vergehen harmlos sind. Da schimpft sich ein Dilettant Experte und drängt den Rosenheimer zum Kauf des Kabrioletts. Faschistische Zwerge, antisemitische Schläger, Spitzel begegnen Kobler. Selbst als er eine reiche Unternehmerstochter zum Heiraten findet, benutzt die ihn für ein Schäferstündchen, wählt dann aber doch den noch reicheren Amerikaner.

Kerstin Krefft übernimmt den Part der Gesprächspartner. Dabei passt sie in bemerkenswerter Verve den Akzent dem jeweils Sprechenden an. Egal ob Wienerisch, Bairisch oder Rheinländisch, Kerstin Krefft beeindruckt nachhaltig mit ihrem Talent. Auch Alexander Schmiedel arbeitet mit sprachlichen Eigenheiten. Alfons Kobler ist ja ein Münchner, also ein Städter ohne echten Dialekt. Eher kurz angebunden als ein Schwätzer.

Die Reise durch Europa, die Kobler antritt, um sich bei der Weltausstellung in Barcelona eine reiche Frau zu angeln, führt durch den Berg-Isel-Tunnel in Tirol. Hier zeigt sich die Doppelbödigkeit des Textes in aller Deutlichkeit, wenn die österreichischen Fahrgäste prophetisch in ihre Zukunft blicken: "Jetzt ist es finster - Vielleicht wird's noch finsterer - Kruzitürken, ist das aber finster". Die Prostitution mit ihren Nutznießern und Opfern erklärt im zweiten Teil Anna Pollinger und ihre Geschichte. Hier zeigt Horváth den Ausweg aus der Misere auf. Eine selbstlose Tat, ein Akt der Hilfsbereitschaft ändert das gesamte Gefüge. Es wird nicht länger nach unten oder zurück getreten. Es menschelt. Der arbeitslose Held Reithofer durchbricht das Rad des Schicksals.

Horváth schreibt im Prolog, er wage nicht zu hoffen, dass er das Weltgeschehen beeinflussen könne. Zumindest hat er das Weltgeschehen 1929 und 2020 zugleich beschrieben. Und mit dem Ausspruch von Koblers Reisebegleiter Schmitz, er sähe ein "Pan-Europa, aber ohne Großbritannien" bewies Horváth eine Hellsicht, die ihresgleichen sucht. "Der ewige Spießer" steht noch im Oktober und November auf dem Spielplan. Die Gelegenheit sollte sich niemand entgehen lassen. Großartig rundherum: Inhalt, Darstellung und Stimmung in der Neuen Bühne Bruck. Jeder gut gelaunte Zuschauer trägt dazu bei, das Weltgeschehen zu verändern.

© SZ vom 05.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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