Wie viel Bevölkerungswachstum verkraftet der städtische und dicht besiedelte Landkreis-Osten in den kommenden Jahren? Auf diese Frage hat sich die Diskussion beim dritten öffentlichen Workshop zur vom Landkreis und 16 Kommunen angestoßenen Struktur- und Potenzialanalyse zugespitzt. Nach neun Monaten Arbeit präsentierte das Expertenteam in der Aula des Graf-Rasso-Gymnasiums erste konkrete Ergebnisse, die bei einem Teil des Publikums auf heftigen Protest stießen. Alain Thierstein, Inhaber des Lehrstuhls für Raumentwicklung an der TU München, bezeichnete für die Zeit bis 2040 ein jährliches Bevölkerungswachstum von einem Prozent als für "verkraftbar".
Auf einer Landkreiskarte präsentierten die Planer Flächen, die insgesamt sogar ein Entwicklungspotenzial für ein Bevölkerungswachstum von vier bis fünf Prozent im Jahr bieten. Dies wurde bewusst getan, um den Kommunalpolitikern einen Entscheidungsspielraum zu geben und Alternativstandorte für den künftigen Wohnungsbau aufzuzeigen. So soll, auch das ist eine Novum, künftig von der Landschaft, also von den erhaltenswerten Freiräumen aus geplant werden. In der Diskussion wurde dieser Perspektivenwechsel jedoch nicht weiter vertieft.
Wegen des enormen Wachstumsdrucks auf den Landkreis - allein im vergangenen Jahr nahm die Bevölkerung um zwei Prozent zu -, haben sich die Bürgermeister und Vertreter der Bauämter bei eigenen Treffen zur Potenzialanalyse informell darauf geeinigt, bis zum Jahr 2040 den jährlichen Zuwachs auf nur noch ein Prozent zu begrenzen. Offen ist allerdings, wo die neuen Wohnungen gebaut werden sollen. Zudem sind die Kommunalpolitiker nicht verpflichtet, sich an einen solchen Leitfaden zu halten, der mehr interkommunale Zusammenarbeit anstoßen soll.
Obwohl ein Wachstum von einem Prozent in etwa der Entwicklung nach der Jahrtausendwende entspricht - von 2004 bis 2014 stieg die Zahl der Landkreisbewohner um 11 377 auf 210 278 an -, löste diese Angabe von Thierstein bei den Zuhörern in der Schulaula heftigen Widerspruch aus. Hans-Jürgen Gulder, der Leiter des Amtes für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Fürstenfeldbruck, kritisierte, dass bei der Potenzialanalyse zu sehr dem "Wachstum das Wort geredet" werde. Überschlagsmäßig errechnete Gulder selbst bei nur einem Prozent Zuwachs bis zum Jahr 2040 für den Landkreis eine Bevölkerungszahl von annähernd 300 000 Menschen. Kreisbaudirektorin Reinlinde Leitz geht von 35 000 weniger aus. Wie Gulder ergänzte, beschäftige ihn der Flächenverbrauch zentral, und für dieses Kernthema sei kein Lösungsweg aufgezeigt worden.
Laut Gulder sollte eine visionäre Strategie für den Landkreis eine andere Entwicklung aufzeigen. Es genüge nicht, wie in der Vergangenheit, immer nur weitere Flächen zu bebauen. Als größten "Sündenfall" im Landkreis prangerte er die Ausweisung eines 50 Hektar großen Gewerbegebiets in Olching an. Und Gulder verwies darauf, dass Grundeigentümer für das ins Auge gefasste Wachstum von einem Prozent pro Jahr kaum noch Bauland zur Verfügung stellen würden.
Auch der Handlungsleitfaden für die Landkreiskommen, in den die Ergebnisse der Potenzialanalyse einfließen werden, wird für die Gewerbeansiedlungen einen anderen Weg aufzeigen als den von der Stadt Olching eingeschlagenen. Laut Michael Bentlage ist der Landkreis prädestiniert für die Ansiedlung von wissensorientierten Dienstleistern und sehr produktive Hochtechnologie mit hochwertigen Arbeitsplätzen, aber nur einem relativ kleinen Flächenbedarf. Die Zukunft liegt also nicht in weiteren großen Logistikzentren mit wenigen Mitarbeitern.
Der Landkreis verfügt über eine große Zahl relativ gut erschlossener, unbebauter Flächen, die gut mit dem Bus oder der S-Bahn zu erreichen sind. Das Expertenteam um Thierstein schlägt deshalb ebenfalls in Absprache mit den Kommunen vor, die Neubaugebiete und Gewerbeflächen in Zukunft vorrangig in der Nähe dieser gut erschlossenen Standorte auszuweisen. Das biete die Option, an attraktiven Standorten Arbeiten und Wohnen zusammenzubringen und damit das Verkehrsaufkommen und die hohe Zahl an Pendlern zu reduzieren.
Auch das wurde kritisch hinterfragt. Ein Mitglied des Eichenauer Umweltbeirats meinte, die Erreichbarkeit eines Wohnviertels sei nicht unbedingt das wichtigste Kriterium. Bevor neue Baugebiete geschaffen würden, gelte es, die bereits versiegelten Flächen besser zu nutzen.
Fast schon euphorisch warb Thierstein dafür, Wohnen und Arbeiten und eine noch nicht gegebene gute Erreichbarkeit im künftigen Fürstenfeldbrucker Stadtteil im Fliegerhorst "zusammenzudenken". Der Maisacher Kreis- und Gemeinderat Gottfried Obermair (FW) warnte davor, Erwartungshaltungen zu wecken, die sich später nicht erfüllen ließen. Obermair erinnerte daran, dass die Gemeinde Maisach schon seit fünf Jahren auf einer ehemaligen Startbahn des Fliegerhorstes eine Umgehungsstraße plane und Schwierigkeiten habe, dafür die Genehmigung zu bekommen. Die geschützten Fauna-Flora-Habitat-Gebiete würden das Wenige verhindern, was auf dem Fliegerhorst geplant werde.
Wer will, kann jedoch auch das aus den vorläufigen Ergebnissen herauslesen, was Kritiker immer wieder bemängelten. Auch die Experten setzen auf einen wesentlich geringeren Flächenverbrauch. Die Planer präferieren nämlich die Verdichtung in bereits bebauten Gebieten mit Mehrfamilienhäusern, das für den Landkreis seit Jahrzehnten typische Einfamilienhauses hat ausgedient. Präferiert wird also eine Entwicklung in Richtung noch urbanerer Kommunen im bereits dicht besiedelten Osten, der auch in Zukunft die Hauptlast des Bevölkerungszuwachses tragen soll.
Wie andere auch, fand ein Mitglied des Eichenauer Umweltbeirats, dass die speziellen örtlichen Gegebenheiten zu wenig berücksichtigt wurden. Zudem seien drei Workshops mit annähernd jeweils nur hundert Teilnehmern nicht repräsentativ und die Vorträge der Experten viel zu "akademisch". Der Eichenauer forderte deshalb, den künftigen Handlungsleitfaden wie einen Bebauungsplan öffentlich auszulegen und die Stellungnahmen der Bürger in die Studie einzuarbeiten.
Eine Frau aus Adelshofen sagte, sie sei von den Ergebnissen völlig "irritiert". Ihrer Ansicht nach hätte die Aufgabenstellung für die Strukturanalyse lauten müssen, jede Region so zu stärken, dass sich eine Abwanderung aus anderen Teilen Bayerns in die Region München erübrige. Metropolregionen wie um die Landeshauptstadt seien zu vermeiden. Der ehemalige Grafrather Bürgermeister Hartwig Hagenguth griff diesen Gedanken auf. "Wir entvölkern Nordbayern, um hier Wachstum zu generieren", merkte der Grafrather an.
Auch Gudrun Hanuschke-Ende aus Schöngeising meinte mit Hinweise auf die begrenzte Ressource Boden: "Wir können nicht immer weiter wachsen." Sie plädierte für das Recyceln von bebauten Flächen und für den völligen Verzicht auf die Ausweisung von weiteren Gewerbe- und Baugrundstücken. Dem setzte Thierstein das Ziel entgegen, mit dem erwarteten Wachstum von einem Prozent pro Jahr eine Lebens- und Bauqualität zu erhalten und zu schaffen, die allen zugute komme. Generell räumten alle Experten der neuen Qualität eines besseren Lebensumfeldes Vorrang vor der Quantität ein.
Obwohl die Mehrheit der Zuhörer regelmäßig bei Einzelabstimmungen die Vorschläge der Raum-, Städte, Verkehrs- und Landschaftsplaner befürwortete, stießen auch immer wieder Punkte der wenigen nur andiskutierten Detaillösungen auf Widerspruch. Fast die einzige Ausnahme bildete das Verkehrskonzept von Benjamin Stadler. Dieser plädierte für Tempo 30 und das "Koexistenzprinzip" für Autofahrer, Radler und Fußgänger im innerörtlichen Verkehr.
Der Vorteil von Tempo 30 ist laut Stadler, dass der Verkehr ohne Ampeln und ohne Übergänge für Fußgänger auf einem aufgewerteten Straßenraum, also ohne den üblichen Stopp-und-Go-Verkehr, langsam, aber dafür stetig und damit schneller durch die Kommunen fließe. Mit dem Ergebnis, dass es weniger Unfälle und auch weniger Lärm gebe. Wie der Verkehrsexperte beteuerte, richte sich dieses Konzept explizit nicht gegen Autofahrer, nur bekomme jeder Verkehrsteilnehmer den ihm zustehenden Raum, um sich auf seine Art möglichst ungefährdet fortzubewegen. Zudem sei der Bau von Umgehungsstraßen, die nur weiteren Verkehr generierten, überflüssig.
Einem Landwirt missfiel, dass zwischen Olching, Eichenau und Gröbenzell aus den Äckern der Bauern ein Landschaftspark werden soll. Diesen Einwand versuchte Landschaftsplanerin Dina Hus zu entkräften. Ein solcher Landschaftspark sei nicht als abgeschlossene Einheit zu betrachten, sondern als ein Netz von Freiräumen und Wegen, bei denen der Erholungsaspekt im Vordergrund stehe. Zwei Drittel der als Landschaftspark definierten Flächen sollten weiterhin als Ackerland zur Verfügung stehen. Ein Entwicklungsmotor zur Sicherung einer solchen Kulturlandschaft könnte eine interkommunale Gartenschau sein.
Um die vielfältigen Ansprüche von Landwirten, Naturschützern und Erholungssuchenden zu vereinbaren, schlug Diana Hus vor, Allianzen von Bürgern und Landwirten zu bilden. Denkbar wäre beispielsweise ein "Urban Farming", also Obst- und Gemüseflächen, die Landwirte und Anwohner gemeinsam bewirtschaften. Auch das regionale Vermarktungskonzept von Brucker Land könnte ein Ansatzpunkt für den Ausbau der Zusammenarbeit von Erzeugern und Abnehmern bilden.
Für Alain Thierstein ist das landschaftsplanerische Konzept mit den beiden Flusstälern von Amper und Maisach, Landschaftsschutzgebieten und den Freiräumen einer der zentralen Punkte zur Weiterentwicklung der Siedlungsbereiche. Der Perspektivenwechsel bestehe darin, die künftige Planung der Siedlungsräume von der Landschaft aus denken. Thierstein fand im Emmeringer Bürgermeister und Kreisvorsitzenden des Gemeindetags Michael Schanderl (FW) Unterstützer dieser Idee. Schanderl bezeichnete das Denken vom Landschaftsraum aus als Instrument zur Konfliktvermeidung. Dazu sei es jedoch erforderlich, konkrete Ziele zu definieren.