Fürstenfeldbruck:Roboterhaftes Schlängeln und verwinkelte Arabesken

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Gruppendynamische Körperästhetik: Die französische Compagnie Accrorap bei ihrem Auftritt auf dem Brucker Tanzfestival. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Die französische Compagnie Accrorap erhebt Hip-Hop beim Auftritt in Fürstenfeld zum kunstvollen Ausdruckstanz

Von Isabel Winklbauer, Fürstenfeldbruck

Hip-Hop ist einfach nicht mehr aufzuhalten. Dass eine Tanzform so erfolgreich war, gab es zuletzt beim Wiener Walzer, und es ist mittlerweile fast lächerlich, mit welcher Vehemenz sich die großen Theater zieren, ihn auf die Bühne zu bringen. In München verbuchte immerhin Simone Sandroni mit seinen "Russian Hiphoppers" einen beachtlichen Erfolg, einem Kabinettstück aus seinem Abendfüller "Das Mädchen und der Messerwerfer" von 2012. Hier ist die Auseinandersetzung allerdings humorvoll. Was, wenn Hiphop ernst genommen würde? Die französische Kompanie Accrorap zelebriert dieses Experiment beim Tanzfestival in Fürstenfeld in vollem Umfang.

Schon das erste Bild von "The Roots" erhebt Ansprüche. Wenn der erste von elf Tänzern sich in einen Sessel setzt, eine Breakdance-Schallplatte aus den 80ern auflegt, dabei in unruhige Träume verfällt und plötzlich weitere Männer die Bühne befüllen - dann ist das nichts anderes als die neu aufgelegte Eingangsszene aus "Spectre de la Rose". Auch zu Zeiten dieses Stücks von Michail Fokine und der Ballets Russes war vieles neu und verpönt, so wie heute der Gassenduft des Streetdance, und verschwand doch nie wieder. Zudem tragen die Protagonisten Anzüge, Stoffhosen und Hemden, keineswegs Jersey und Kapuze. Das Publikum befindet sich sowohl tanzhistorisch als auch stilistisch in bester Gesellschaft.

Die Geister, die Choreograf und Kompaniechef Kader Attou nun beschwört, heißen vor allem Popping und Downrocking. Roboterhaftes Schlängeln, mit perfekt isolierten Körpergliedern, beherrschen die Accrorapper in einem Maße, wie man es in Fernsehsendungen wie "Got to dance" (wo der Hip-Hop ja derzeit sein Dasein fristet) vergeblich sucht. Im Solo oder in dicht verwobenen Gruppen ranken und rucken sich die Männer über die Bühne, ungestört von Frauen, nur mit ihrer Kunst beschäftigt, die sie aufsaugen und wiedergeben wie Schwämme. In anderen Szenen zeigen sie eine überwältigende athletische Kondition, wirbeln in Windmühlen und Flares auf dem Boden, erstarren zu Freezes.

Plakativ? Sind 32 Fouettés doch auch. Auch Hebungen zeigen die Männer, in denen sie sich eng umfassen und zu verwinkelten Arabesken krümmen. Das sind Figuren, die eine ganz eigene Intimität vermitteln, keine erotische, sondern eine Nähe, wie sie nur zwischen Tänzern oder anderen Körperarbeitern entsteht. Hier zählt nicht das Alltagsgeschehen wie im Handlungsballett oder seinem Pendant, dem Tanzfilm, wo zuletzt der Kampf im Pas de Deux von Mann und Frau gewonnen wird. Kader Attous Hip-Hop taucht tief ein in die Wurzeln des Genres als Ausdruckstanz und erforscht seine Eigenschaften als emotionaler Katalysator einer ganzen Generation. Frustration, Schmerz, Enttäuschung, Gruppendynamiken, all das ist der Ausgangspunkt, an dem Hip-Hop einst startete.

Jedoch: Dieses impulsive Geschehen wird bei Accrorap nicht von Hiphopbeats begleitet, sondern von klassischer Cello-, Violinen- oder Klaviermusik. Auch von Klangcollagen und Weltmusik. Den Tanz vom Popbeat zu entkoppeln, das ist der Kunstgriff, den Kader Attou vollführt. So macht der Franzose mit algerischen Wurzeln sichtbar, was noch niemand zugeben will: dass Hip-Hop an Kraft, Detailreichtum und menschlichem Ausdruck dem Jazzdance und Modern Dance der 70er und 80er Jahre ein gutes Stück überlegen ist. Die Erkenntnis gipfelt am schönsten in einer Szene, in der der Battle-Heimkehrer auf einen Tisch steigt und steppt, wobei sich die anderen nach und nach in Wellenbewegungen zu ihm gesellen, so lange, bis die Zuschauer ein wogendes Floß der Medusa aus Männerleibern vor sich sehen. Überhaupt ist hier nichts stabil, auch die Sessel und Stühle mit ihren abgesägten Beinen stehen schief und scheinen so im Boden zu versinken. Hip-Hop, das ist ständige Bewegung, eine einzige, große Welle.

Über 90 Minuten werden die aneinander gereihten Szenen allerdings ein wenig eintönig, nicht zuletzt auch weil die flotteren Beats bis zur erlösenden Percussion-Sequenz am Schluss doch abgehen. "The Roots" fehlt es an Leichtigkeit. Dafür bekommt der Zuschauer elf starke Charaktere zu sehen, die ihre Intentionen hemmungslos auf die Bühne bringen und die sich in ihrer ganzen körperlichen und geistigen Präsenz zeigen. In dieser Kunstform steckt mehr. Wer das nicht sieht, hat sein Beanie doch zu tief über die Augen gezogen.

© SZ vom 11.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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