Fürstenfeldbruck:Mit Technik Barrieren überwinden

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Eine Besucherin informiert sich an der Schauwand darüber, welche der Funktionen bei gehörlosen oder schwerhörigen Menschen beeinträchtigt sind. (Foto: Günther Reger)

Unter dem Motto "Hören, Sprechen, Sehen" informiert der Behindertenbeirat in der Stadthalle über Erleichterungen für Menschen mit Hör- oder Sehbeeinträchtigungen

Von Lena von Holt

Germering "Früher konnten Menschen mit Handicap nicht am normalen Leben teilnehmen", erklärt Christoph Prößl vom Behindertenbeirat Germering. Er hat mitgeholfen, die Ausstellung "Hören, Sprechen, Sehen" in der Stadtbibliothek Germering aufzubauen. Heute sei das anders. Nicht zuletzt wegen des technischen Fortschritts haben Menschen mit Hör- und Sehbeeinträchtigungen die Möglichkeit, ihr Leben in der Mitte der Gesellschaft aktiv zu gestalten. Eine Türklingel, die leuchtet, statt zu läuten, oder ein Kissen, das vibriert und damit das Klingeln des Weckers ersetzt: Mit Hilfsmöglichkeiten wie diesen gelingt es etwa tauben Menschen ihren Alltag selbständig zu bewältigen.

In der Ausstellung kann man zum Beispiel eine Pappbrille ausprobieren, die für die Augen bloß zwei winzig kleine Löcher ausspart. Sie simuliert den Tunnelblick, eine starke Augenkrankheit, die das Sehfeld einschränkt und im Fachjargon unter Retinopathia Pigmentosa bekannt ist. Durch Ausstellungsstücke wie diese will Erika Malland-Eick ein Bewusstsein für die Probleme von Hör- und Sehbeeinträchtigten im Alltag schaffen. Die 67-Jährige, die die Ausstellung organisierte, ist selbst betroffen. Sie trägt zwei Chochlea-Implantate, jeweils etwa drei Zentimeter lange Hörprothesen für Gehörlose, die operativ hinter dem Ohr eingepflanzt werden. Mit 40 Jahren hatte Malland-Eick mehrere Hörstürze, ohne das Implantat wäre sie heute vollständig taub.

Sich politisch zu engagieren oder zu studieren, all das ist heute trotz Handicaps möglich. Ein Fremddolmetschdienst lässt sich beispielsweise schon im bayerischen Landtag nutzen. Ein Dolmetscher wird dann über das Internet hinzugeschaltet, ohne dass er direkt vor Ort sein muss. Der Nutzer guckt sich das Video auf seinem Handy oder Tablet an und erhält dann eine Echtzeit-Übersetzung. Ein anderes Tool, das gehörlosen Menschen im Alltag hilft, ist die "induktive Höranlage". Genutzt wird diese bereits im Amadeus- und Orlandosaal der Stadthalle Germering. Mittels einer Induktionsschleife kann dieses technische Hilfsmittel Audiosignale drahtlos an ein Hörgerät oder ein Chochlea-Implantat übertragen. Auf diese Weise wird ein geräuschintensives Umfeld, das für diesen Ort typisch ist, von Betroffenen nicht länger als störend wahrgenommen. Malland-Eick wünscht sich solch eine Anlage auch für Bibliotheken, Schulen und Kirchen im Landkreis. Bislang gebe es diese Anlage lediglich im Christoph-Probst-Gymnasium in Gilching und in den beiden katholischen Kirchen Sankt Bosco und Sankt Jakob in Germering. In der evangelischen Jesus-Christus-Kirche sei nach den Umbauarbeiten gar nicht erst wieder eingebaut worden. Genau wie die induktive Höranlage gebe es auch zu wenig Gebärdendolmetscher in den öffentlichen Einrichtungen. Und das, obwohl Gehörlose das Recht haben, dass ihnen bei Bedarf einer zur Seite gestellt wird.

Auch sehbeeinträchtigte Menschen erhalten Hilfestellung durch moderne Technik. Etwa von einem Scanner, der beim Einkaufen Produkte und Farben erkennt oder von einem Vorlesegerät, das Texte einscannen und anschließend als Audio wiedergeben kann. Doch auch für blinde und sehbehinderte Menschen gibt es im Landkreis noch immer zu wenig Angebote, beklagt Malland-Eick. Dabei beizieht sie sich nicht nur auf das barrierefreie Bauen, sondern meint auch die Ausstattung von Museen im Landkreis. Diese müssten zum Beispiel mehr Möglichkeiten zum Anfassen und Ertasten bieten.

Trotz der vielen Möglichkeiten, die die Innovationen bieten, hätten Betroffene immer noch Probleme, am öffentlichen Leben teilzunehmen, egal ob in der Schule, im Beruf oder in ihrer Freizeit. Gehörlose Menschen schämen sich oft für ihre Beeinträchtigung und versuchen, sie geheim zu halten. Isolierung, Probleme am Arbeitsplatz, sowie Ängste und Depressionen sind nur einige Folgen der Krankheit. Da Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit im Vergleich zu Blindheit Behinderungen sind, die man dem Menschen nicht ansieht, komme es oft zu Missverständnissen. Zum Beispiel würden Betroffene als dumm oder dement abgestempelt werden, erklärt Anna Krott, Audiotherapeutin der Selbsthilfegruppe Ohrmuschel Gilching. Durch Mitarbeiterschulung, Aufklärung und Neueinrichtung des Arbeitsplatzes hilft sie Betroffenen dabei, trotz Beeinträchtigung weiter in ihrem Beruf zu bleiben.

Im Jahr 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben. Sie schreibt die Inklusion, also die Einbeziehung behinderter Menschen in die Gesellschaft vor. Ihnen soll fortan das Recht zustehen, am öffentlichen Leben teilzunehmen, indem ihnen der barrierefreie Zugang zu Kino, Theater oder öffentlichen Einrichtungen ermöglicht wird. Bis 2023 will Ministerpräsident Horst Seehofer Bayern vollständig barrierefrei machen. Dazu sieht er einen Umbau des öffentlichen Raumes und Personennahverkehrs vor, so dass allen eine selbstbestimmte Teilhabe am öffentlichen Leben ermöglicht wird. Ob das Vorhaben in den kommenden sieben Jahren wirklich umgesetzt wird, bezweifelt Malland-Eick: "Wir müssen jetzt einen Marathon laufen."

Die Ausstellung zeigt, was Technik mittlerweile alles ermöglichen kann. Für die Inklusion behinderter Menschen in die Gesellschaft fehlt es nicht an technischen Voraussetzungen, sondern an deren politischer Umsetzung. Zur Auftaktveranstaltung versprach Oberbürgermeister Andreas Haas immerhin, künftig induktive Höranlagen in öffentlichen Einrichtungen wie dem Standesamt, dem Bürgerbüro oder dem Sitzungssaal des Rathauses einzuführen. Ein politisches Zeichen, das vielleicht doch noch Hoffnung auf eine zeitnahe Umsetzung macht.

Die Ausstellung "Hören, Sprechen, Sehen" ist bis 30. März in der Stadtbibliothek in Germering zu sehen . Am Freitag, 18. März, referiert Jochen Müller, Lebensberater für hörbehinderte Menschen, und am Dienstag, 22. März, wird aus dem Buch der taubblinden Schriftstellerin Helen Keller gelesen (jeweils von 15 bis 16.30 Uhr).

© SZ vom 16.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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