Premiere an der Neuen Bühne Bruck:Leben mit dem Scheitern

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Die aktuelle Inszenierung der Neuen Bühne Bruck beschreibt auf beeindruckende Weise den Alltag in einem deutschen Jugendamt. Dabei gelingt dem Regisseur Philipp Jescheck eine Inszenierung die nachdenklich macht, aber nicht verzweifelt

Von Edith Schmied, Fürstenfeldbruck

Die erste Szene im etwas verwirrenden Büroalltag eines Jugendamtes hat durchaus etwas Slapstickhaftes. Hektisch und überdreht schwirren drei Sozialarbeiterinnen mit fliegenden Fahnen zwischen Kartons und Telefon hin und her, hacken dazwischen in bizarrem Psychologen- und Behördenkauderwelsch die Beurteilungen ihrer Fälle in den Computer. Doch der lockere Einstieg täuscht. Im aktuellen Stück der Neuen Bühne Bruck "Kaspar Häuser Meer" geht es um das Tabuthema Vernachlässigung und Verwahrlosung von Kindern und die oft kritisierte Arbeit von Jugendämtern. Beseelt von dem Gedanken zu helfen, hin und her gerissen zwischen dem alltäglichen Bürowahnsinn und privatem Stress, sind die drei Frauen vom Amt, Barbara, Anika und Silvia, auf dem besten Wege im "Kaspar Häuser Meer" unterzugehen. Zugegeben, der Titel des aktuellen Stückes ist etwas sperrig. Aber damit wird wohl bewusst die Parallele gezogen zu Kaspar Hauser, dem rätselhaften, verwahrlosten Findling aus Ansbach.

Ohne Frage, die Betroffenheit im Publikum ist hautnah zu spüren, obwohl Felicias Zellers Stück sich auf Betreuer und Begleiter konzentriert und nicht auf Opfer und Gewalttäter, was die Sache noch beklemmender machen würde. Besonders dann, wenn die Stimme aus dem Off konkrete Verwahrlosungsszenarien fast gleichgültig, dafür umso eindringlicher schildert, wird es im Zuschauerraum ganz still. Es sind Fakten, die die Autorin selbst in Jugendämtern recherchiert hat.

Dass die Beklemmung an diesem Abend nicht überhandnimmt, liegt an der besonderen Sprachakrobatik der Autorin. Sie führt in angespannten Situationen zu lächerlichen Sprachverwirrungen im Behördensprech und Wortfindungsstörungen. Überarbeitung und Stress in den Amtsstuben, realitätsferne Gesetze setzt sie in groteske Momente und absurde Szenen um. Mitten im größten Chaos von unerledigten Fällen gönnen sich Barbara, Anika und Silvia eine Portion Psychohygiene und beschwören, omm, omm, eine ganz entspannte, heile Welt. Die Zettel mit den unerledigten Fällen werden für niedliche Kinderspielchen missbraucht. Man darf also durchaus ohne schlechtes Gewissen befreit lachen. Was übrigens auch bei den Proben der Fall war, wie Regisseur Philipp Jeschek im Anschluss an die gelungene Premiere erzählt.

Auf recht unterschiedliche Art gehen die drei Frauen mit ihrer Situation um, die sich nach dem "Björn-out" ihres Kollegen Björn noch zuspitzt. Am Rande eines Nervenzusammenbruchs bewegen sich alle drei. Barbara (Anne Distler), das ist die Abgebrühte mit 20 Jahren Berufserfahrung. Professionell begegnet sie dem "passionierten Stammmelder" von skandalösen Zuständen in der Nachbarschaft. Die Angst, "was ist, wenn doch was dran ist?", kann auch sie nicht wegdrücken. Genial, wie sie die geistigen Verrenkungen ihres Chefs und das Drücken um eine Entscheidung pantomimisch darstellt. Anika (Lisa Drothler), das ist die Junge, Idealistische. Auch sie hat ihren grandiosen Auftritt wenn sie das Missverständnis einer mexikanischen Familie um gegenseitige Geldforderungen darstellt. Sie selbst erfährt, wie schnell man in Verdacht gerät, nur weil sie wegen Überstunden ihr Kind nicht rechtzeitig aus dem Kindergarten abholt und ihr keine Zeit bleibt wegen eines abgebrochenen Schneidezahns zum Arzt zu gehen. Und schließlich Silvia (Friederike Peters). Sie kommt, rein äußerlich, am allerwenigsten mit ihrer Situation klar. Es gelingt ihr nicht Ordnung in ihr System zu bringen. Schon ein verlegter, bunter Notizblock bringt sie völlig aus der Fassung. Hautnah schildert sie, wie sie sich endlich Zutritt zu einer vermüllten Wohnung verschafft und ein völlig verwahrlostes Kind vorfindet. Dem kann man sich als Zuschauer kaum entziehen. Fast poetisch entwickelt sie das Bild von Überarbeitung. Die Kolleginnen hängen wie verwelkte Pflanzen über den Schreibtischen.

Der Untertitel, "to helf or not to helf", ist nicht die entscheidende Frage des Stückes. Sie lautet eher, "wie"? "Die große Sehnsucht nach Prävention ist nicht einlösbar", lautet die Erkenntnis von Felicia Zeller. Das Scheitern beschreibt ihrer Meinung nach nicht einen Skandal, es ist der auszuhaltender Teil der Arbeit. Das Brucker Publikum honorierte die beeindruckende Leistung von Darstellerinnen und Regisseur mit viel Applaus. Ein sehenswertes Theaterstück, das trotz der Brisanz des Themas den Zuschauer nicht depressiv zurücklässt.

© SZ vom 12.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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