Fürstenfeldbruck:Geschichten aus der Geschichte

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Auftritt im Lorbeerkeller: Kerstin Krefft als Kastrat Filippo Balatri, musikalisch begleitet von Andreas Harwarth. (Foto: Günther Reger)

Eine unterhaltsame Stadtführung weckt bei Teilnehmern Erinnerungen

Von Sonja Pawlowa, Fürstenfeldbruck

Stadtführerin Petra Vögele ist am Samstagabend sehnsuchtsvoll erwartet worden. Die wenigen Schattenplätze auf den Parkbänken waren frühzeitig belegt. Die Gruppenführung an "geheimnisvolle Orte" in Fürstenfeldbruck war trotz Fußball-EM völlig ausgebucht. "Es war eine einsame Zeit im Home-Office. Die schlimmste Zeit meines Lebens," sagt eine Frau. Vor einem Jahr ist sie nach Fürstenfeldbruck gezogen. Nun brennt sie darauf, ihren neuen Wohnort zu erkunden. Und zwar keinesfalls virtuell.

Die Voraussetzungen sind optimal. Das Wetter spielt mit, die Teilnehmer sind bester Laune. Vögele trägt einen Wimmerl-Lautsprecher um den Bauch, so dass keine technischen Hürden den Genuss einschränken. Entscheidend an den geheimnisvollen Orten sind nämlich die Geschichten, die die Zuhörer in längst vergangene Geschehnisse eintauchen lassen. Bebildert und vertont durch Kerstin Krefft und Andreas Harwarth von der Neuen Bühne Bruck verwandelt sich die Stadtführung dadurch in ein mobiles Theaterstück in sieben Akten an verschiedenen Schauplätzen.

Einen Eisdom nennt Petra Vögele die finsteren Tonnengewölbe in den Hügeln hinter der Klosterkirche in Fürstenfeld. In den weit verzweigten Gängen und Räumen hatten Weinfässer, Bier, Gemüse und Käse Platz. Doppelwandig gebaut, inwendig mit einer Eisschicht befüllt, dienten die Eiszellen als Kühlschrank für alle Bereiche der Klosterwirtschaft, und den Schauspielern als dunkles Versteck, so dass die Teilnehmer wie in der Geisterbahn zusammenzuckten, als plötzlich Kerstin Krefft als Filippo Balatri hervortrat.

Spannender könnte eine Geschichte kaum sein: Filippo Balatri, ein kleiner Junge im Italien des 17. Jahrhunderts, den der eigene Vater zur Kastration zu einem Wundarzt führt. Kastraten-Sänger waren eine schreckliche Mode in jener Zeit, die in Filippos Fall jedoch zu einer bemerkenswerten Karriere als Sopranist an den bedeutendsten Höfen Europas führte. Gestorben ist er schließlich im Kloster Fürstenfeld, geplagt von Depressionen, auch ohne Corona und Home-Office.

Auch die nächste Station der Führung rückt die Härten unserer Zeit in ein anderes Licht. Gleich unterhalb der S-Bahn-Gleise liegen 274 Tote am kleinen Soldatenfriedhof begraben. Sie waren Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg. Viele Russen sind dabei. Während andere Nationen die Überführung der Verstorbenen in die Heimat bezahlten, konnte sich das revolutionsgebeutelte Russland dies nicht leisten. Andreas Harwarth hingegen schildert eindrucksvoll den Kampf der Lebenden mit den Läusen in der Gefangenschaft. Der Text wurde vom Theater der Kriegsgefangenen in Puchheim selbst verfasst. Passend der Titel "Mein kleiner Körper kennt keine Geheimnisse". Das Publikum kratzt sich solidarisch mit und freut sich auf freudigere Aspekte der Geschichte. "Lilli Marleen" unter der Laterne beleuchtet zwar noch keinen solchen, aber der kleine Fußmarsch durch die üppige Botanik führt dann in den Stadtpark und in prächtigere Zeiten.

Hinter einer vergitterten Brücke verbirgt sich ein Kleinod der Architektur, die Villa Falk, vormals Villa Aumiller. Gebaut 1924 vom Architekten Adolf Voll war diese Villa Schauplatz der Geschichte der 20. Jahrhunderts, vom Börsenkrach und der Pleite der reichen Aumillers über die Zwischennutzung als Casino durch die Amerikaner bis hin zum Laufsteg für Pelzmoden in den Fünfzigerjahren. Wie ein Musical der Stadtgeschichte mutet es an, wenn Andreas Harwarth die Epochen musikalisch untermalt und sie sogar durch einen Rock'n'Roll eines GI mit Fräulein Krefft bebildert werden. Manfred Vögele, der Ehemann der Stadtführerin, musste den GI-Tänzer geben. Einen Blick ins Turbinenhaus in der Aumühle werfen zu können, das ist ein ganz besonderes Schmankerl. "Ich bin gebürtige Bruckerin und kenne aber nur die Fassaden", sagt eine Teilnehmerin. Tatsächlich erscheint vieles in einem neuen Licht, wenn die Hintergrundinformationen dazukommen. Historismus in der Industrialisierung, die Siloturm-Holzkonstruktion, wie das Holz über den Ammersee bis zur Lände verschifft wurde, das sind Fragen, die Petra Vögele kurzweilig beantwortet. Den großen Brand im Jahr 1989 der Aumühle, quasi am Vorabend der Bibliothekseröffnung, haben die Brucker noch in Erinnerung, die Einzelheiten erzählen die Schauspieler in einer Spielszene.

Selbst die Rückseite des Amperbads weckt Erinnerungen. Das Gelände der Kletterinsel, hinter Büschen und unter Bäumen, war einst der lauschige Rückzugsort für Jungverliebte. Das bestätigt eine Teilnehmerin, die als gebürtige Bruckerin jeden der geheimnisvollen Orte von klein auf kennt. Solch eine Stadtführung kann ihr mehr als Informationen liefern. Sie erfüllt die Sehnsucht nach Unterhaltung. Wunderbares Musiktheater unter freiem Himmel und emotionale Geschichten wie im Kino, das haben alle viel zu lange vermisst.

Die Aussicht auf einen sorgenfreien Sommer mit einem weiteren Termin von "geheimnisvolle Orte" am 1. August und einem kulturreichen Herbst mit zwei auf Eis liegenden Premieren an der Neuen Bühne Bruck geben Anlass zur Vorfreude. Die Kreativität aller Beteiligten sprießt und gedeiht nach wie vor.

© SZ vom 23.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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