Fürstenfeldbruck:Gefährlicher Nachbar

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Über Jahre hinweg beleidigt und bedroht ein Teenager eine Familie. Bis er vorübergehend in die Psychiatrie kommt. Nach einem Umzug gerät der junge Mann auch mit den neuen Nachbarn in Streit und sticht schließlich einen mit dem Messer nieder

Von Ariane Lindenbach, Fürstenfeldbruck

Die Messerattacke am S-Bahnhof in Grafing im Frühjahr lässt bei Andrea Rudolf alles wieder hochkommen: Die ständigen Morddrohungen, die bis zum Exzess betriebenen nächtlichen Ruhestörungen, die permanente Angst und die Phase, als ihre mehrköpfige Familie von zivilen Polizeibeamten bewacht wurde, bis der Verursacher - ihr Nachbar - 2010 mit 19 Jahren vorübergehend in die Psychiatrie eingewiesen wurde.

Rudolf (alle Namen von der Redaktion geändert) will ihre Geschichte öffentlich machen. Sie wolle die Leute sensibilisieren für psychisch auffällige Menschen, damit so etwas wie in Grafing in Zukunft vielleicht verhindert werden kann. Für Andrea Rudolf, ihre Familie und vor allen Dingen ihren früheren Nachbarn, der nach dem Psychiatrieaufenthalt wieder zu seiner Mutter, dann in den Landkreis Fürstenfeldbruck gezogen war, ist das zu spät: Ihr ehemaliger Nachbar attackierte im Juli vorigen Jahres seinen damaligen Nachbarn mit einem Messer. Der heute 24-Jährige wurde jüngst vom Landgericht München II vom Vorwurf des versuchten Mordes freigesprochen. Die Richter sehen ihn wegen einer seelischen Erkrankung als schuldunfähig an und er bleibt bis auf weiteres in der Psychiatrie untergebracht.

Die Rudolfs leben 2007 mit ihren Kindern im Alter von drei bis zehn Jahren in einem idyllischen Paarhundert-Seelen-Dorf im Nachbarlandkreis Landsberg. Sie bewohnen ein Haus mit Garten. Im Herbst zieht in das Einfamilienhaus nebenan eine alleinerziehende Mutter mit ihrem 16-jährigen Sohn ein; nennen wir sie Agnes und Tomas Thurau. Schon nach wenigen Wochen beschwert sich Agnes Thurau über Müll hinter Rudolfs Haus. Laut Andrea Rudolf hatten sie lediglich für ein paar Tage einen Container angemietet, um den Keller auszumisten. Die Beschwerden der neuen Nachbarn nehmen zu, zudem beginnt Tomas Thurau Andrea Rudolf zufolge, ihre Kinder zu beleidigen und zu bedrohen. Er habe sich so penetrant über ihr lautes Spielen im Garten beschwert, dass sie die Kinder dort schließlich nicht mehr spielen lassen konnte. Und er habe immer wieder seine Hand auf ihre Kinder gerichtet, als ob er sie erschießen wolle. Auch wenn der Nachbar erst 16 ist: Familie Rudolf fühlt sich von ihm ernsthaft bedroht.

2008 geht vorüber, die Situation wird immer schlimmer. Der inzwischen 17-Jährige beleidigt auch andere Dorfbewohner, brüllt nachts herum. "Das halbe Dorf konnte nicht mehr schlafen", sagt Andrea Rudolf. Ihren Beobachtungen zufolge "fiel es auf, dass das phasenweise ist". Allerdings seien die Intervalle mit zunehmender Dauer immer kürzer geworden, dafür wurden die Aussetzer "immer heftiger". Aus Beleidigungen werden Morddrohungen. Natürlich hat Familie Rudolf zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Anzeigen gegen Tomas Thurau erstattet. Verbessert hat das ihre Situation nicht. Deshalb rät die Polizei der Familie, die Straftaten zu dokumentieren, etwa durch ein Lärmprotokoll, und eine einstweilige Verfügung zu erwirken, damit sich der Nachbarssohn ihnen nicht mehr nähern darf.

Im August 2009 ist die Situation so unerträglich und bedrohlich, dass Familie Rudolf einen weiteren polizeilichen Rat befolgt und für ein paar Tage ihr Heim verlässt. "Wir haben dann in Südtirol zwischen Obsthainen übernachtet mit unseren Kindern." Klingt idyllisch, doch zumindest die Eltern fanden die Lage kaum zu ertragen.

Noch im gleichen Monat erlässt das Amtsgericht Landsberg am Lech eine einstweilige Verfügung, doch Tomas Thurau verstößt laut Andrea Rudolf immer wieder dagegen - durch Beleidigungen, Bedrohungen und Ruhestörungen. Mehrfach wird er deshalb zu Geldstrafen verurteilt. Für Familie Rudolf ist die Situation inzwischen so beängstigend - Tomas Thurau droht täglich und immer detailreicher damit, ihre Familie und sie umzubringen - dass ihre Kinder nicht mehr allein in die örtliche Schulkinderbetreuung gehen dürfen und von der die Schulsekretärin hingebracht werden müssen. Von der Polizei fühlt sich Familie Rudolf in dieser Zeit sehr allein gelassen. "Die Polizei sagt, sie macht nur etwas, wenn sie ihn erwischt", beklagt sich Andrea Rudolf. Ihre Schilderung von den Aussetzern des Nachbarn allein hätten nicht genügt.

Weshalb es - aus Sicht der Betroffenen - unerträglich lange dauert, bis die Polizei in solch einem Fall eingreift, erklärt ein Sprecher des Polizeipräsidiums Oberbayern Nord. "Dass die Polizei tätig wird, setzt eine konkrete Gefahrenlage voraus". Bloß weil jemand von seinem Nachbarn behaupte, dieser bedrohe ihn mit dem Tod, könne man denjenigen nicht einfach einsperren. Darüber entscheidet in der Regel ohnehin nicht die Polizei, sondern die Justiz. Wie der Sprecher betont, seien insbesondere Nachbarschaftsstreitigkeiten "Alltag". Deshalb müsse die Polizei in diesen Fällen besonders sorgfältig prüfen, ob die erhobenen Vorwürfe stimmten. Generell aber gelte: "Wir müssen schon immer rechtsstaatlich vorgehen. Wir können nicht einfach gegen jemanden vorgehen, bloß weil ein anderer irgend etwas behauptet." Deshalb rate die Polizei in Fällen wie dem der Rudolfs, beispielsweise ein Lärmprotokoll zu führen, um die Ruhestörungen belegen zu können, oder sich unabhängige Zeugen zu suchen, die zum Beispiel eine Morddrohung miterleben. Beweise mittels Filmaufzeichnungen zu sichern, ist dem Polizeisprecher zufolge komplizierter, da das nur in engen Grenzen erlaubt ist. Des weiteren rate die Polizei in Fällen wie dem der Rudolfs oft zu einstweiligen Verfügungen. Doch auch bis dahin ist es ein langer Weg und auch dafür muss man die Vergehen des anderen beweisen können.

Bei den Rudolfs endete die Tortur im Frühsommer 2010 recht rasch: Als ein Sohn zufällig eine der Morddrohungen des gut erkennbaren Tomas Thurau filmt und die Familie damit zur Polizei geht, leitet diese weitere Maßnahmen ein. Andrea Rudolf nennt sie Polizeischutz. Zwei Beamte seien im Frühjahr 2010 mit einem zivilen Wagen rund um die Uhr vor ihrem Haus gewesen. Einmal - da gab es wohl Personalmangel - habe die Familie nach einem Anruf der Polizei sofort das Haus verlassen und an einen sicheren Ort gehen müssen. Bis endlich abends, womöglich zum Schichtwechsel, wieder zwei Beamte vor ihrem Haus postiert worden seien. Erst als der inzwischen 19-jährige Nachbar wenige Wochen später von der Polizei abgeholt und in der Psychiatrie untergebracht wird, endet für Familie Rudolf die Ausnahmesituation.

Agnes Thurau zieht bald aus dem kleinen Dorf weg in den Landkreis Fürstenfeldbruck. Ihr Sohn folgt ihr, nachdem er entlassen wurde. Kurz danach, im Alter von 23, bringt er seinen neuen Nachbarn beinah mit einem Messer um. Seither ist Tomas Thurau, jetzt 24, wieder in der Psychiatrie untergebracht.

Ganz ähnliche Erfahrungen mit Tomas Thurau - angefangen bei Beleidigungen und Anzeigen bis hin zu Morddrohungen - hat eine weitere Frau im Landkreis Landsberg gemacht. Auch sie will unerkannt bleiben, aus Angst "er erinnert sich an mich und es fängt wieder an, wenn er wieder raus kommt". Ein halbes Jahr traktierte Thurau sie. Am Ende habe die Polizei auch sie und ihre Kind bewacht. Tomas Thurau sagte zu den Vorgängen nichts. Sein Anwalt wollte eine entsprechende Anfrage auch nicht weitergeben.

© SZ vom 27.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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