Fürstenfeldbruck:Eine Handvoll Stacheln

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Verena Hilger und ihre "Arwen". Über Herbst und Winter ist die Biologin die Pflegemama des kleinen Igels, der ohne ihre Hilfe wahrscheinlich die Kälte nicht überleben würde. (Foto: Günther Reger)

Die Biologin Verena Hilger kümmert sich um Igel, die für das Überleben in der kalten Jahreszeit zu schwach sind. Inzwischen kann sie zwar selbst keine Fundtiere mehr aufnehmen, gibt aber Helfern gerne Tipps

Von Zoe Englmaier, Fürstenfeldbruck

Läuft ein Igel am helllichten Tag im Freien herum - taumelnd, orientierungslos oder mit Löchern im Nadelkleid - gleicht das einem Hilferuf. Er möchte damit sagen: "Mir geht es schlecht." "Die Wildtiere sind nachtaktiv und sollten deshalb tagsüber nicht wach sein", sagt die Biologin Verena Hilger. Doch dieses Jahr wurden schon Igel gefunden, die vor Hunger nicht schlafen können. Die sonst so scheuen Tiere werden auf ihrer Suche nach Nahrung im schlechtesten Fall zutraulich.

"Für mich ist es das Schlimmste, wenn ein Igel sich bei der Begegnung mit Menschen nicht mehr versteckt oder einrollt, sondern seinen Bauch zeigt. Dann hat er fast schon aufgegeben", sagt Hilger. Die 41-Jährige kümmert sich schon seit zwei Jahren um Igel, die zu schwach für den natürlichen Winterschlaf sind. "Nachdem ich gelesen hatte, dass die Igelmama gestorben ist und wir selbst einen im Garten hatten, fing ich an, mich einzulesen", sagt Hilger. Die sogenannte Igelmutter hieß Waltraud Eckl und kümmerte sich etwa 50 Jahre um die Wildtiere. Sie war Mitglied des Tierschutzvereins Tierfreunde Brucker Land.

Auf Hilgers altem Handy - mittlerweile das Igel-Telefon genannt - melden sich täglich so viele Menschen, so dass sie sich zurzeit hauptsächlich mit den Igeln beschäftigt. Insgesamt seien es 20 Tiere, die sie mit ihren Freundinnen füttert und medizinisch versorgt. Zehn Igel leben bei der 41-Jährigen zu Hause und werden auch bis zum Frühling dort bleiben. Da sie keine Tiere mehr aufnehmen kann, hilft sie den Findern, die Igel selbst aufzuziehen. Außerdem unterhält Hilger eine öffentliche Gruppe in Facebook namens "Igel in Fürstenfeldbruck", auf welcher Fragen gestellt werden können. Auch Beiträge mit Tipps für die Aufzucht sind auf der Seite zu finden. Dabei ist es ihr jedoch wichtig, dass sich die Wildtiere nicht an den Menschen gewöhnen. So versucht sie zum Beispiel, bei der Überwinterung jegliche Berührungen zu vermeiden und erklärt diesen Standpunkt auch allen Findern.

So kam der kleine Arwen - dieses Jahr sind alle nach den Figuren aus der "Herr der Ringe"-Trilogie benannt - mit etwa drei Wochen zu Hilger. Einen Handteller groß und mit weichen Stacheln, war er zu leicht und krank. "Er wog gerade mal 80 Gramm, und das ist viel zu wenig", sagt Hilger. Normalerweise wiegen die Tiere im Alter von vier bis sechs Wochen bis zu 200 Gramm. Doch diesen Herbst gebe es zu viele, die ein Gewicht von unter 100 Gramm hätten. Nicht nur die Kleinen sind von der Nahrungsknappheit betroffen. "Die ausgewachsenen Igel sollten mehr als 500 Gramm wiegen, sonst muss man sie reinholen und füttern", betont Hilger.

Die Tiere seien so abgemagert, da es nicht genug Insekten, wie Laufkäfer und Larven, gebe. Aufgrund des heißen Sommers und des Einsatzes von Pestiziden gibt es zu wenig Nahrung. Manche Weibchen hätten deshalb einen frühen ersten und einen späten zweiten Wurf bekommen. Die Jungen aus dem zweiten Wurf seien jedoch viel zu jung für die Jahreszeit. Der schlagartig kalt gewordene Herbst schwächt die Igel zusätzlich. Der Körper wandelt die Nahrung deshalb in Wärme und nicht in Fett um.

Doch nicht nur Hunger ist der Grund für die geschwächten Tiere. "Besonders elektrische Freischneider verletzten die Igel. Da sie tagsüber in den Büschen im Garten schlafen, können sie nicht flüchten, wenn dort gemäht wird", erklärt Hilger. Die Schnitte seinen schmerzhaft und könnten sich entzünden. Des Weiteren wird der Trend eines englischen Rasens den Tieren jedes Jahr zum Verhängnis, da sie dort weder einen Unterschlupf noch Material für ihren Kokon finden. Denn "die Igel rollen sich vor ihrem Winterschlaf so lange auf den Blättern umher, bis sich diese wie eine sehr enge Schicht um sie legt, die nicht schimmelt und sie warm hält", erklärt Hilger.

"Wenn man einen ausgehungerten Igel findet, dann muss man ihn unbedingt warm halten, sonst isst er nichts. Am besten setzt man den Igel auf eine Wärmeflasche." Wenn man die Tiere nicht mit ins Haus nehmen möchte, könne man ihnen ein Häuschen bauen. Dieses sollte aber keinen Boden besitzen, da ihre Bewohner nicht stubenrein sind. Im Frühjahr sei es wichtig, eine Schale mit Wasser hinzustellen, da die Igel nach dem Winterschlaf sehr durstig sind. Für die Fütterung gibt Hilger folgende Empfehlung: "Milch ist zum Beispiel tödlich. Auch Obst, Gemüse und Nüsse können nicht verdaut werden," erklärt die Biologin. Viele Menschen haben falsche Vorstellungen von der Ernährung eines Igels. Es sind keine Nagetiere, sondern Insektenfresser. Die Finder sollen ihnen vor allem proteinreiche Nahrung geben. Auf dem von Hilger aufgestellten Menüplan stehen zum Beispiel gekochte Hühnerhälse, Hackfleisch, Katzenfutter und Rührei. Morgens bekommen die Wildtiere eine kleine und abends eine große Portion. Arwen hat noch nicht alle Zähne und bekommt deshalb eine Mischung aus Babykatzenfutter und Kittenmilch. Zurzeit wird er mit einer Spritze gefüttert, doch seine vorübergehende "Igelmama" lehrt ihn gerade, selbständig zu fressen. Immer öfter platziert sie seine Nahrung in einer kleinen Schale, um ihn dazu zu ermutigen.

Für die verletzten Tiere hat sich Hilger Medikamente wie Antibiotika, Wurmkuren und Schmerzmittel zugelegt. Arwen war bisher zu klein für eine Behandlung, doch mittlerweile hat Hilger schon damit begonnen, die Würmer zu besorgen. Nach dem Winterschlaf kehren die aufgenommenen Tiere wieder zu den Findern zurück. "Die Igel haben ein sehr gutes Gedächtnis. Sie erinnern sich an ihr Zuhause, deshalb ist es mir wichtig, dass sie dort wieder hin können."

Es gibt deutschlandweit verschiedene Organisationen für ausgehungerte und verletzte Igel, wie den Igel-Notruf. Trotzdem klingelt das Handy der 41-Jährigen mehrmals am Tag. "Ich habe das Gefühl, dass die Menschen aus Fürstenfeldbruck jemanden aus der Umgebung schätzen. Deshalb muss ich die Igelhilfe vermutlich professionalisieren. Denn der Bedarf ist da", sagt Hilger. Aufgrund der Nachfrage sucht sie nach Helfern, die ebenfalls ein paar Igel bis zum Frühling aufnehmen oder für den Winter füttern könnten.

Auf ihrem Igel-Telefon ist Verena Hilger unter 0160/ 97 63 02 20 erreichbar. Weitere Informationen zum Thema Igel in der öffentlichen Gruppe in Facebook oder unter pro-igel.d e.

© SZ vom 03.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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