SZ-Adventskalender:Die Leere danach

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Der unerwartete Tod des Partners ist für eine alleinerziehende Witwe und ihre beiden kranken Kinder nur schwer zu verkraften. Der Verstorbene hinterlässt Schulden, weshalb die Mutter Insolvenz anmeldet. Selbst in dieser Situation versucht sie, ihr Leben positiv zu sehen

Von Julia Bergmann, Eichenau

Manchmal, wenn der Lehrer in der Schule ganz beiläufig fragt, was die Kinder ihren Vätern zum Vatertag schenken, bekommt Maria Ulbricht dieses Gefühl, für das sie kaum die richtigen Worte findet. "Ich denke mir dann...", sie zögert. "Naja, ich habe keinen Vater mehr", führt die 14-Jährige den Satz zu Ende. Die feste Stimme und der offene Blick können kaum über die Melancholie in ihren schokoladenbraunen Augen hinwegtäuschen. Letztes Jahr am Ostersonntag, sie und ihr Bruder hatten gerade die Suche nach den Nestern beendet, zerbrach das Leben der vierköpfigen Familie so jäh und erbarmungslos, wie man es sonst nur aus den fassungslos zugeraunten Worten anderer kennt.

Erzählt ihre Mutter Sigrid davon, stehen die Bilder von damals wieder im Raum. So präsent als wäre seit dem 31. März 2013 nicht mehr als ein Atemzug vergangen. "Wir saßen gemeinsam im Wohnzimmer, mein Mann hat noch mit Maria herumgealbert und plötzlich, mitten im Satz, hält er inne, verdreht die Augen und rauft sich die Haare", sagt sie. "Ich habe solche Kopfschmerzen", das war sein letzter Satz. Dass die Lage ernst war, dass sie handeln musste, hat sie sofort begriffen. "Es war, als ob eine Mauer herunterfährt. Du funktionierst einfach nur noch." Das Telefon in der linken Hand, die Anweisungen des Notarztes im Ohr hat Sigrid sofort mit der Herzmassage begonnen. Dann endlich der Rettungswagen, der Arzt, das Kriseninterventionsteam - der Abtransport ins Krankenhaus.

Nachmittags kommt die Familie im Klinikum an. Auch die Brüder und Schwestern von Sigrids Mann treffen ein. Um 21 Uhr kommt der behandelnde Arzt. "Es schaut gar nicht gut aus, hat er gesagt. Er hatte nur noch zwei Prozent messbare Hirnaktivität", sagt Sigrid. Der Arzt legt ihr nahe, in den nächsten Tagen die Maschinen abzustellen. Das war drei Tage vor ihrem 44. Geburtstag. "Dann sitzt du da und überlegst dir, wer bin ich, dass ich über das Leben oder den Tod meines Mannes entscheide." Sie konnte es einfach nicht. Drei Monate noch hofft die Familie auf Besserung. Drei Monate, in denen Notoperationen sich häufen, in denen immer wieder einzelne Organe des Ehemanns versagen.

Wenn die Familie das Fotoalbum ansieht, erinnert sie sich an die Momente, die sie mit dem verstorbenen Ehemann und Vater der Kinder erlebt haben. (Foto: Günther Reger)

Selbst die neurologische Frührehabilitation in einer Spezialklinik ändert wenig an seinem Zustand. "Sie haben es kurzzeitig geschafft, dass er selbständig atmet. Einmal, am Geburtstag unserer Tochter, hat er noch kurz die Augen geöffnet", erzählt Sigrid. Die Hoffnung, dass da doch noch etwas ist, dass es noch eine Chance gibt, hält sich hartnäckig. Schließlich, es ist schon lange keine Hirnaktivität mehr messbar, müssen Sigrid, Maria und Dominik den Tatsachen ins Auge sehen.

Am 6. Juli, die ganze Familie hatte sich versammelt, wurden die Geräte abgestellt. "An diesem Tag konnte ich ihn endlich gehen lassen", sagt sie. Für die Kinder war das ein unfassbar schwerer Moment. "Ich war auf 180", erinnert sich Dominik, den so vieles mit seinem Vater verbunden hatte. In den ersten Wochen danach versuchte Sigrid, die Routine vergangener Zeiten wieder zu finden. "Ich habe lange versucht, die Fassade aufrecht zu erhalten." Aber schon bald tun sich Risse auf.

Immer wieder kommen Briefe, adressiert an den Ehemann. Erinnerungen, Zahlungsaufforderungen, Mahnungen. Plötzlich war da die Gewissheit, dass ihr Mann mehr als 30 000 Euro Schulden angehäuft hatte. Sigrid ist selbständig und muss schließlich Insolvenz anmelden. Schlimmer noch sind die Sorgen um die Kinder. "Wir hatten früher ein gutes Leben, konnten uns alles leisten, was wir uns gewünscht haben. Jetzt haben wir zwei Drittel des Einkommens weniger", erzählt sie. "Aber wir halten zusammen, das ist das Wichtigste", sagt Dominik.

Die Kinder haben die neue Situation mittlerweile verkraftet. "Ich weiß, dass sie mir nicht böse sind, wenn es dieses Jahr mit den Weihnachtsgeschenken knapp wird", sagt Sigrid. Trotz allem versucht sie, das Positive zu sehen. Das war nicht immer so. "Es gab damals schon Momente, da habe ich gedacht, setz dich ins Auto, der nächste Baum kommt. Dann bist du wieder bei ihm", flüstert sie. Aber dann war da gleich der nächste Gedanke: "Spinnst du? Du hast zwei kranke Kinder, die dich lieben und brauchen."

Tochter Maria, leidet seit Jahren am Guillain-Barré-Syndrom, einer seltenen und schweren Nervenkrankheit, die Schmerzen und fortschreitende Lähmungen in Armen und Beinen verursacht. 2009, während einer Rückenmarkpunktion, erlitt Maria einen Schlaganfall. " Sie musste danach alles wieder neu lernen, das Laufen, das Sprechen, Lesen und Schreiben." Die Schmerzen muss sie immer noch ertragen. Auch ihr Bruder hat zu kämpfen. Er kam sieben Wochen zu früh auf die Welt, hat deswegen motorische Störungen. "Als er vier Jahre alt war, ist er schwer gestürzt und mit dem Kopf auf der Tischplatte aufgeschlagen", sagt Sigrid. Bei der Untersuchung stellt sich heraus, dass sich im Gehirn des heute 17-jährigen ein epileptogener Herd befindet, der Krampfanfälle verursacht.

Vor acht Wochen kam schließlich noch eine schockierende Diagnose für die Mutter. Am Arbeitsplatz bekam die 45-Jährige plötzlich keine Luft mehr. Der Notarzt musste kommen. "Sie haben mir gesagt, der linke Herzmuskel hat aufgehört zu arbeiten", erzählt sie. Trotzdem, den Lebensmut will Sigrid sich nicht nehmen lassen. "Eigentlich habe ich alles, was ich brauche. Meine Kinder sind bei mir", sagt sie. Das einzige, was sie sich wünsche, sei Gesundheit und dass es Maria und Dominik gut gehe. Unterstützung vom Adventskalender will sie nur für ihre Kinder in Anspruch nehmen. Jeder von ihnen soll sich einen lange gehegten Wunsch erfüllen können.

Bei Maria wäre das ein Friseurbesuch. "Freundinnen von mir haben sich bunte Strähnchen färben lassen. Wenn ich könnte, würde ich das auch gerne machen", sagt sie und lächelt schüchtern. Dominik zögert kurz, so ganz will er mit der Sprache nicht raus. Aber es gebe da schon etwas. "Ich habe einen ganz bestimmten Wintermantel gesehen, der war zwar schon cool, aber er kostet fast hundert Euro", sagt er verlegen. Dann bleibt er kurz still und erzählt von seinem größten Wunsch. "Dass mein Vater wieder zurück kommt. Ich weiß, er geht nie in Erfüllung, ich habe Gott damals oft genug darum gebeten. Aber ich weiß jetzt auch, dass Gott nicht jedem helfen kann und dass er diejenigen gehen lässt, die gehen müssen." Der einzige Trost für ihn und seine Schwester sind die Momente in denen sie spüren, ihr Vater ist noch bei ihnen und beschützt sie. Irgendwo von ganz weit oben.

© SZ vom 13.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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