Corona - eine Krankheitsgeschichte, Fall 1:Sand in der Lunge

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Silvia Reinschmiedt (links) mit Hündin Hera und ihrer "Lieblingskrankenschwester" Branka Ivanic, zu der sie nach den schweren Tagen in der Kreisklinik Kontakt hält. Auch Branka Ivanic hat Covid-19 durchgestanden, sie leidet aber bis heute unter einem eingeschränkten Geruchs- und Geschmackssinn. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Silvia Reinschmiedt erwischt das Virus wie der Blitz aus heiterem Himmel. Bisweilen fühlt sich die Geschäftsführerin der Volkshochschule dem Tod näher als dem Leben. Fassungslos machen sie vermeintliche Freunde, die ihr wegen der Erkrankung auch noch Vorwürfe machen

Von Stefan Salger, Fürstenfeldbruck

Silvia Reinschmiedt hat lange gebraucht, um diesen Entschluss zu fassen. Lange sah sich die Leiterin der Gretl-Bauer-Volkshochschule Fürstenfeldbruck schlicht außerstande, offen über ihre Erlebnisse zu sprechen. Auch deshalb, weil ihr vereinzelt sogar Vorwürfe gemacht wurden. Vorwürfe deshalb, weil sie sich mit dem Coronavirus infizierte. Eigentlich absurd, dass so etwas ausgerechnet von Menschen kam, die sie zu ihrem Freundeskreis zählte. Wochen, ja Monate dauert es, bis Reinschmiedt, 57, körperlich und seelisch in der Lage ist, öffentlich über ihre Erfahrungen zu sprechen. Freunde haben sie darin bestärkt. Und so hat sie sich dazu entschlossen, den Verschwörungstheoretikern und Ignoranten nicht mehr das Feld zu überlassen. Und dazu, Mitmenschen wachzurütteln, die sich fast schon an das Virus gewöhnt haben und ausblenden, dass die Sache auch für Menschen diesseits des Rentenalters böse ausgehen kann. Mag sein, dass es nach diesem Outing weitere Anfeindungen gibt, aber das wird sie aushalten.

An einem spätherbstlichen Tag sitzt Silvia Reinschmiedt in ihrem Büro. Sie trägt Mundschutz, schon aus Gewohnheit. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Unterlagen und Akten. Es ist auch beruflich eine schwierige Zeit, eine Berg- und Talfahrt der Gefühle. Die Volkshochschule musste im März schließen. Dann durfte sie im Sommer wieder Kurse anbieten. Und vor Kurzem kam dann doch die befürchtete zweite Welle und mit ihr der nächste Lockdown. Erneut mussten Mitarbeiter in die Kurzarbeit geschickt werden.

Die tief stehende Sonne scheint durch die großen Fenster. Die VHS-Geschäftsführerin ist farbenfroh gekleidet. Es wirkt fast so, als wolle sie damit ein Zeichen setzen gegen die Tristesse. Gegen die grassierende Erschöpfung im Lande angesichts der andauernden Hiobsbotschaften. Und ja: auch gegen die graue, bleierne Gleichgültigkeit mancher Menschen. Letztlich hat Silvia Reinschmiedt in all der Misere ja noch Glück gehabt: "Ich musste nicht beatmet werden, habe gute Prognosen und keinen Lungen- oder Herzschaden davongetragen." Andere haben nicht so viel Glück, die Intensivbetten füllen sich, die Zahl der mit oder an Covid-19 Gestorbenen steigt - auch in der Kreisklinik, die keine hundert Meter entfernt liegt. Im März lernt Silvia Reinschmiedt den klotzigen Bau von innen kennen. Anfang des Monats sind noch Witze gerissen worden über das Virus, das in Wuhan offenbar von Wildtieren auf den Menschen übergesprungen ist. "Auch ich habe noch gedacht: na ja, China, das ist weit weg. Und wie kann man denn auch Fledermäuse essen?" Damals heißt es, dass Mundschutz kaum etwas bringt. Vor Schmierinfektionen solle man sich aber in Acht nehmen.

Am 16. März wacht Silvia Reinschmiedt am Morgen mit einem trockenen Husten auf. Corona? Könnte sein, denkt sie sich, zumal am Tag der Kommunalwahl tags zuvor viele Leute in das Wahllokal im VHS-Gebäude gekommen waren. Erst nach vielen Versuchen erreicht sie die am Landratsamt eingerichtete, offenbar heillos überforderte Stelle, die für Corona zuständig ist. Sie berichtet von "Schnupfen, und ich schmecke nichts mehr". Der Rat: Bleiben Sie daheim! Silvia Reinschmiedt will aber Gewissheit. Ein Mediziner aus dem Freundeskreis hilft ihr, sich auf das Sars-CoV2-Virus testen zu lassen. Ein paar Tage später ruft das Gesundheitsamt an. Es ist Freitagmittag: Der Test ist positiv. Silvia Reinschmiedt fühlt sich wie unter einer Käseglocke. Absolute Stille. Was wird passieren? Es gibt so viele Gerüchte. Sie informiert ihre Kolleginnen und setzt ihre Quarantäne fort. Um Mitternacht tritt dann auch noch der bundesweite Lockdown in Kraft. Aber was tun mit Mischlingshündin Hera? Tochter Sophie kommt gemeinsam mit ihrem Freund extra aus Tübingen. Die Einkaufstüte wird auf den Treppenabsatz gestellt, ein Hallo nur aus der Distanz, schrecklich.

Abends merkt Reinschmiedt, dass sie immer langsamer wird, sie verbrennt sich die Hand am Herd, merkt es kaum. "Jetzt wird's kritisch", denkt sie. Ihre Pflegetochter, eine junge Syrerin, die sie 2015 kennen gelernt hat, ist Krankenschwester. Sie rät ihr am Samstagvormittag am Telefon, den Notarzt zu rufen. So kommt sie in die Kreisklinik. Da kann sie bereits nur noch flüstern. Es fühlt sich an, als habe sie Sand in der Lunge - es reibt bei jedem Atemzug. Rasende Kopfschmerzen setzen ein - Glasscherben im Kopf. Trinken und essen geht gar nicht mehr. Im Nebenzimmer liegt ein infizierter Mann und schreit. Aber Reinschmiedt bekommt das nur noch wie durch Watte mit. Da sind aber auch die "Menschen in Gelb", deren Augen man hinter all den Masken und Visieren zwar nicht erkennt, die aber alles geben. "Die waren toll und menschlich". Das immerhin ist ein Lichtblick in der Welt, die gerade aus den Fugen gerät. Einmal kommt eine Reinigungsfrau herein und sagt: "Sie schaffen das!" Das ist Medizin - obwohl es in der realen Welt damals keine wirksame Therapie gibt. Auch für die Ärzte ist es Neuland, sie müssen experimentieren, improvisieren. Als das Fieber auf über 40 Grad steigt, denkt Silvia Reinschmiedt: Jetzt gilt's! Sie hat Todesangst. "Was ist, wenn ich hier sterbe, ohne noch jemanden sehen zu dürfen?" Sie liegt zwar nicht auf der Intensivstation, aber es herrscht striktes Besuchsverbot. "Ich habe mich gefühlt wie in einer Waschtrommel." Sie schickt Nachrichten an Verwandte und Freunde. Eine Freundin fertigt eine Gebetskette an und schickt ein Foto übers Handy. Auch das gibt Halt.

Silvia Reinschmiedt schießen in den Stunden und Tagen, in denen sie "verkabelt" allein im Zimmer liegt, viele Gedanken durch den Kopf. Wo könnte sie sich angesteckt haben? Beim Starkbierfest im Marthabräu war sie, eine Woche vor der Wahl - aber sie saß ganz hinten, eigentlich mit reichlich Abstand. Oder war es ein VHS-Kursteilnehmer. Oder im Supermarkt? Quälende Fragen, auf die sie nie eine Antwort bekommen wird. Und dann, nach vier schier endlosen Tagen, ist sie über den Berg. Ihr Zustand stabilisiert sich. Es kommt der Tag der Entlassung: Vier Grad, die Sonne scheint von einem tiefblauen Himmel. Traumhaft. Und doch ist für Silvia Reinschmiedt nichts mehr, wie es einmal war. Während der folgenden zwei Wochen in Quarantäne lernt sie, wer die wahren Freunde sind und wer eher nicht. Es trifft sie hart, als sie von zwei Bekannten unverblümt verantwortlich gemacht wird für die eigene Quarantäne, die ihnen wegen des Kontakts auferlegt worden war. "Das hat mich umgehauen." Andererseits gibt es Menschen wie den Nachbarn, der ihr jeden Tag eine Nussschnecke vor die Tür legt, mit besten Genesungswünschen. Auch ihr Ziehsohn, der Bruder der syrischen Krankenschwester, kümmert sich rührend um sie.

Wie im falschen Film fühlt sie sich, wenn sie die Corona-Demonstranten sieht - ohne Mundschutz, ohne Abstand. Und wenn es heißt, dass die alten Menschen doch ohnehin bald sterben würden. Silvia Reinschmiedt ist fassungslos, wenn sie das sieht und hört. Solche Menschen jagen ihr genauso viel Angst ein wie das Virus selbst: "Egoismus ist kein Grundrecht!"

© SZ vom 24.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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