Anklage wegen versuchten Totschlags:Stich in die Lunge

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Messerattacke vor Gericht: Ein Angeklagter beschreibt ausführlich seine Medikamentensucht - doch zum eigentlichen Tatvorwurf schweigt er.

Andreas Salch

Über seine Medikamentensucht kann Michael F., 42, stundenlang sprechen. Fast einen ganzen Vormittag lang. Die komplizierten Namen der Präparate, die er sich besorgte, indem er zu Hause am Computer Rezepte fälschte, gehen ihm so mühelos über die Lippen, dass er sich auch nicht einmal verhaspelt. Wenn er wieder aus dem Gefängnis entlassen werde, sagt der 42-Jährige, werde er sich wohl wieder illegal Medikamente besorgen.

Doch sollte er für die Tat verurteilt werden, wegen der er sich seit Dienstag vor der Schwurgerichtskammer am Landgericht München II verantworten muss, würde es wohl einige Jahre dauern, bis Michael F. wieder in Freiheit kommt. Die Staatsanwaltschaft legt ihm einen versuchten Totschlag zur Last.

Am frühen Abend des 24. April soll der Angeklagte hinter der Amperbrücke zunächst einen Bekannten aus dem Drogenmilieu, der zu diesem Zeitpunkt völlig betrunken war, grundlos eine zwei Meter Böschung hinuntergestoßen haben. Der Mann erlitt Prellungen, Schürfwunden sowie eine Gehirnerschütterung. Unmittelbar hierauf, soll Michael F. dann sein sieben Zentimeter langes Springmesser gezogen und den 37-jährigen Ertan I. angegriffen haben, so zumindest steht es in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft.

Der gelernte Industriemechaniker hatte einem Freund, der in seiner Nähe stand, noch zugerufen: "Bruno, der sticht mich ab!" Kurz darauf brach Ertan I. nach einem Stich in den rechten Oberschenkel zusammen. Daraufhin soll ihm der Angeklagte sein Messer ein weiteres Mal in den Oberschenkel, in die linke Wade sowie zweimal in den Oberkörper gestoßen haben.

Ein Lächeln für die Mutter

Dass der 37-Jährige die Attacke überlebte, gleicht einem Wunder. Durch die Stiche war ein arterielles Gefäß und der linke Lungenflügel verletzt worden. Hätte er nur noch einen halben Liter Blut mehr verloren, so sagten ihm seine Ärzte später im Krankenhaus, wäre er tot gewesen. Warum Michael F. ihn fast getötet hätte, weiß Ertan I. nicht. Etwa eine Woche vor der Tat sei es zu einer verbalen Auseinandersetzung mit dem Angeklagten gekommen. Mehr sei nicht gewesen, so der Industriemechaniker bei seiner Vernehmung.

Der Angeklagte, der den Richtern zuvor so ausführlich über seinen Medikamenten- und Drogenmissbrauch berichtete, sagte zu der mutmaßlichen Tat indessen gar nichts. Gleich zu Beginn der Verhandlung erklärte einer seiner beiden Verteidiger, dass der Angeklagte zunächst nichts zu den Vorwürfen sagen werde.

Waren es die Folgen eines jahrelangen Medikamentenmissbrauchs die ihn angeblich fast zum Mörder werden ließen? In aller Regel versichern Drogenabhängige vor Gericht, sie seien zum Zeitpunkt, an dem sie ein Verbrechen verübt haben sollen, mit Betäubungsmitteln regelrecht vollgepumpt gewesen. Nicht so Michael F.: Vor der Messerattacke, wegen der sich nun verantworten muss, habe er "sehr wenig" von einem Drogenersatzstoff sowie von einem Psychopharmakon gegen Angstzustände genommen. Mehr konnten die Richter ihm zu der angeklagten Tat nicht entlocken.

Während der Vernehmung von Ertan I. saß Michael F. regungslos auf seinem Platz auf der Anklagebank. Manchmal lächelte er seiner Mutter zu, die den Prozess als Zuschauerin verfolgte. Der 42-Jährige lebte bis zu seiner Verhaftung bei ihr. Der Prozess dauert an.

© SZ vom 01.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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