1898:Die Müllkippe von München

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Kippwagen einer Feldbahn fuhren den Restmüll zur Deponie, wo er bis zu sechs Meter hoch aufgeschüttet wurde. (Foto: oh)

Der Recyclingbetrieb war einer der modernsten der Welt

Von der Müllkippe zum Stadtzentrum, so lässt sich die Geschichte der Puchheimer Planie zusammenfassen. Anno 1898 eröffnete auf dem Moorgelände südlich der Bahnlinie einer der weltweit ersten Recyclingbetriebe überhaupt. Dort wurde der gesamte Münchner Hausmüll hinverfrachtet, aussortiert und der Rest deponiert. Seit 1966 entstand auf dem Gelände ein neues Viertel. Den Anfang machten das Rathaus, die Kirche Sankt Josef und einige Wohnhäuser. Es folgten Hochhäuser und Geschossbauten. Zurzeit leben etwa 3000 Menschen in dem Quartier.

Über Jahrhunderte war Puchheim ein kleines Bauerndorf. Die Neuzeit begann, als 1873 die Bahnlinie München-Lindau eröffnet wurde. Sie lag weit ab vom Altdorf im Moor. Dort lebten nur ein paar Torfstecher und Kleinbauern, spöttisch als Moosgrattler bezeichnet. 1896 bekam Puchheim eine eigene Bahnstation, die zum Katalysator der weiteren Entwicklung wurde.

1891 erließ der Münchner Magistrat die erste Abfallsatzung. Seitdem fuhren Haritschwagen, einrädrige Karren, zweimal in der Woche durch die Stadt. Diese Müllentsorgung war eine späte Konsequenz der Cholera, die in München noch in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts gewütet hatte. 1897 schloss die Stadt mit der Hausmüllverwertung GmbH einen Entsorgungsvertrag ab. Das Unternehmen suchte einen Standort und wurde in Puchheim wegen des Gleisanschlusses fündig.

Fortan wurde der Müll mit der Bahn nach dorthin gefahren. In der Hausmüllfabrik sortierten Arbeiter Metalle, Glas, Porzellan, vor allem Altkleider und Lumpen aus, die gereinigt und wieder verwertet wurden. Der Rest wurde zu Dünger verarbeitet oder mit Feldbahnen abtransportiert und auf einer Fläche von 170 Hektar bis zu sechs Meter hoch aufgeschüttet. Damals hoffte man, mit dem Material den Moorboden in fruchtbares Ackerland verwandeln zu können. 1904 wurde deshalb ein Gutshof angelegt und es wurden landwirtschaftliche Versuche gemacht. Die Hausmüllfabrik bot etwa 200 Arbeitsplätze. Delegationen aus dem In- und Ausland besichtigten die seinerzeit vorbildliche Anlage.

Was für Mengen bewältigt wurden, zeigt sich daran, dass allein 1929 knapp 200 000 Tonnen Müll auf 2800 Waggons angeliefert wurden. In der Weltwirtschaftskrise und nach dem Zweiten Weltkrieg durchstöberte die Bevölkerung die Halden nach Nahrung und Wertstoffen. Die Behörden versuchten vergeblich, das zu unterbinden. Ob während des Kriegs Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, ist offen. Zumindest bei der Müllabfuhr Harbecks in München waren Kriegsgefangene und ausländische Arbeiter im Einsatz. Im Februar 1942 beantragte der Firmenchef die Zuweisung von 100 "Ostarbeitern" beim Arbeitsamt.

Zur Kehrseite gehörte, dass auf der Deponie Brände ausbrachen, die oft monatelang schwelten. 1941 war Bürgermeister Josef Steindl gegen eine Vertragsverlängerung für den Betrieb des "Schandflecks". Acht Jahre später übernahm die Stadt München selbst die Müllbeseitigung. Die Anlage in Puchheim wurde geschlossen.

Mitte der Sechzigerjahre begann eine neue Phase, das Planiegelände wurde bebaut. 1966 feierten die Puchheimer die Einweihung des neuen Rathauses und der neuen Kirche. In dem weichen Untergrund Fundamente zu legen, war schwierig. Für die Kirche musste ein tiefes Loch gegraben und mit Kies und Beton aufgefüllt werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte ganz Puchheim eine Bevölkerung von nicht mal 4200 Einwohnern. Zehn Jahre später , als die Neubauten in der Planie, aber auch im Norden des Ortes bezogen waren, lebten mehr als 16 000 Menschen in Puchheim. Die Wohnbebauung im großen und damals modernen Stil begann auf dem Planiegelände südlich der Bahnlinie Anfang der Siebzigerjahre im Bereich der Adenauer-, Kennedy- und Heussstraße. 1980 stoppte der Gemeinderat per Grundsatzbeschluss die weitere Ausweisung von Bauland, weil die Lebensqualität unter dem "explosionsartigen Wachstum erheblich leidet".

In den Neunzigerjahren entdeckte man im Boden der Planie polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK), von denen einige krebserzeugend sind. Es handelt sich um Rückstände aus der Asche, die ein Hauptbestandteil des Hausmülls bildete. Sie stammt von Kohle aus dem Bergwerk in Penzberg. Mit dieser Entdeckung verwandelte sich der einstige Musterbetrieb in eine Schadstoffdeponie.

© SZ vom 14.09.2016 / bip - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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