Seit 20 Jahren eine wichtige Anlaufstelle:Menschlicher Beistand und finanzielle Hilfe

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Silvia Niedermeier ist die Vorsitzende des Vereins "Weißer Ring" im Landkreis Freising. (Foto: Marco Einfeldt)

Während sich die Polizei um Täter kümmert, bleiben Opfer von Straftaten oft allein. Hier springt der Weiße Ring ein. Auch im Landkreis hilft der Verein Betroffenen, nach traumatischen Erlebnissen in den Alltag zurückzufinden

Von Clara Lipkowski, Moosburg

Einen lustigen Abend hatte Julia S. mit ihrer Schwester verbringen wollen. In die Disco wollten sie, nur ein bisschen trinken und tanzen, den Geburtstag der Schwester feiern. Sie lernten zwei nette Männer an der Theke kennen, die Stimmung war gut, dann ging Julia vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen. Das nächste, an was sich die junge Frau erinnert, ist, wie sie im Park gegenüber des Clubs wieder zu sich kommt und an sich herunter schaut: Die Kleidung zerrissen, Blut auf der Haut, aber vor allem wusste sie nicht, was passiert war. Später kam heraus, dass ihr K.-o.-Tropfen ins Getränk gemischt wurden.

So etwas dämmerte ihr bereits, als sie weinend zurück in die Disco lief und ihre Schwester fand, die sie schon gesucht hatte. Noch am Abend bekamen sie Gewissheit: Mit der Polizei fuhren sie zur Untersuchung in die Rechtsmedizin: Dort stellte sich heraus, die junge Frau war vergewaltigt worden. Kurz darauf trat Silvia Niedermeier mit Julia in Kontakt. Niedermeier ist eine zierliche, elegante Frau mit einer weichen Stimme. Als Vorsitzende des Vereins "Weißer Ring" im Landkreis Freising ist sie da, wenn Menschen Opfer einer Straftat geworden sind. Sie bietet ein Gespräch an: Was ist passiert, wie kann es jetzt weitergehen? Sie stellt Fragen, hört zu, wenn das Opfer bereit ist zu reden. Sie vermittelt einen Opferanwalt, begleitet Betroffene zu Gerichtsverhandlungen oder sucht nach einem geeigneten Traumatherapeuten.

Meist erfährt sie aus der Zeitung oder von der Kripo in Erding oder der Polizei in Freising von einer Straftat und kontaktiert das Opfer, das bei der Polizei sein Einverständnis dafür gegeben hat. Silvia Niedermeier ist eigentlich Angestellte im Bankwesen und kam 1996 über eine Ausschreibung für Ehrenamtliche zum Weißen Ring, der damals die Außenstelle in Moosburg eröffnet hatte.

Mittlerweile hat der Verein einen Stamm von zehn ehrenamtlichen Mitarbeitern und etwa 120 Mitgliedern. Der bundesweit agierende Weiße Ring besteht inzwischen seit 40 Jahren. Die Mitarbeiter betreuen Opfer jeglicher Straftaten, darunter häusliche Gewalt, Stalking, Überfälle, Einbrüche oder Sexualstraftaten. Damit füllt er eine Lücke, die von staatlicher Seite aus nicht gefüllt wird, sagt Michael Ertl, Hauptkommissar in Freising. Denn während die Polizei sich um die Täter kümmert, bleiben die Opfer mit der Gewalterfahrung oft allein.

Nach 20 Jahren rekapituliert Silvia Niedermeier: "Früher haben sich die Menschen mehr geschämt und auch oft nicht gewusst, dass es dieses Angebot gibt. Heute suchen sich mehr Leute Hilfe, sie sind besser informiert, aufgeklärter - auch über das Internet." Durchschnittlich 50 Opfer betreuen sie und ihre Kollegen im Jahr. Seit Gründung der Außenstelle waren es laut Niedermeier einige Tausend Fälle. Julia S. hat sie ein Jahr lang betreut.

Die Tat brachte das Leben der jungen Frau durcheinander. Sie verlor den Job, weil sie sich nicht mehr konzentrieren konnte. Zwar vertraute sie sich dem Chef an, der aber zeigte wenig Verständnis, verwies auf die Probezeit und kündigte ihr. Julias Partner hatte lange Zweifel, ob er ihr glauben könne. Hinzu kam, dass die Polizei den Männern von der Theke nichts nachweisen konnte. Sie stritten alles ab und wurden nicht belangt. Wie die meisten Opfer, quälten Julia Fragen: Warum hat es mich getroffen? Was hätte ich tun können, um es zu verhindern?

"Unsere Aufgabe ist es dann zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen und nach und nach auch aus der Opferrolle", sagt Silvia Niedermeier. Das Leben muss ja weitergehen. Dafür sei menschlicher Beistand erst einmal das Wichtigste. Ältere Menschen, so hat sie beobachtet, nähmen eher ungern Gesprächsangebote an. Ein Ehepaar, um die 80, das zu Hause ausgeraubt worden war, zog sich nach der Tat zurück. Nach ein paar Gesprächen lehnte es weitere Hilfe ab. "Bald darauf starb die Frau", berichtet Silvia Niedermeier, "der Ehemann sagte, sie sei an einem gebrochenen Herzen gestorben, sie habe das nicht verkraftet."

Das zeige, dass die psychischen Folgen von Straftaten nicht zu unterschätzen seien: "In zwei Drittel der Fälle benötigen die Opfer eine Form von psychologischer Hilfe", sagt Niedermeier. Die vermittelt der Verein aus einem großen Netzwerk von Psychologen und Beratern, teils mit Beratungsschecks. Damit übernimmt der Weiße Ring die ersten Sitzungen bei einem Traumatherapeuten, in denen der Betroffene herausfinden kann, ob eine Therapie das Richtige in seiner Situation ist. Die finanzielle Hilfe für Opfer werde individuell ermittelt, sagt Niedermeier. Dann setzt sich ein Mitarbeiter mit dem Betroffenen zusammen.

Einmal konnte ein Mann nach einer Messerattacke seinen Beruf als Handwerker nicht mehr ausüben, er lag lange im Krankenhaus, musste in die Reha. Bis die beantragte Opferentschädigung kam, konnte der alleinerziehende Vater seinen Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten. Da sprang der Weiße Ring ein. "Wir wollen Menschen helfen, solche finanziellen Notlagen zu überbrücken", sagt Niedermeier. Eine Obergrenze gibt es nicht. Selten aber sind ist die Summen höher als mehrere Tausend Euro, finanziert aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Ein besonders sensibles Thema geht der Verein hin und wieder an: Äußert der Betroffene ausdrücklich den Wunsch, organisiert der Weiße Ring ein Täter-Opfer-Gespräch. Das sei zwar eher selten, sagt Silvia Niedermeier. Manche aber wollten doch endlich eine Antwort auf die Frage: Warum hast du das getan?

© SZ vom 20.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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