Mitten in Freising:Relatives Kältegefühl

Lesezeit: 1 min

Noch vor wenigen Wochen beklagten sich die Menschen über die unsägliche Hitze. Jetzt laufen viele mit Baumwollmütze und Wintermantel rum

Kolumne von Thilo Schröder

Noch vor wenigen Wochen beklagte man sich täglich über die unsägliche Hitze im Landkreis. Verdorrte Felder, ausgetrocknete Flüsse und zur Neige gehende Biervorräte, der Klimawandel wurde für alle sichtbar. Inzwischen hat sich etwas ganz anderes gewandelt: die Kleidung. Wohin man schaut, begegnen einem derzeit in der Fußgängerzone Wintermantel- und Baumwollmützenträger. Fahrradfahrer haben sich quietschbunte Stirnbänder und diese überaus praktischen Fingerhandschuhe übergestülpt. Ziemlich kalt muss es hier sein, möchte man meinen. Doch etwas fehlt an dem Bild: die zu kleinen Nebelwölkchen kondensierte Atemluft. Denn eigentlich ist es noch gar nicht so kalt. Oder doch?

Es hat wahrscheinlich mit dem relativen Kältegefühl zu tun. Nach den monatelangen Höchsttemperaturen fühlen sich die nach wie vor zweistelligen Plusgrade, die an der Wetterstation Weihenstephan-Dürnast gemessen werden, etwa so frostig an wie ein vorweihnachtliches Kältetief. Zumal die aufgewirbelten herbstfarbenen Blätter, die einem um die Knöchel wehen, das gewohnte Oktobergefühl unterstreichen. Und ein bisschen geregnet hat es zuletzt ja auch. Besonders sichtbar ist dieses Gefühl am Freisinger S-Bahnhof. Die am Bahnsteig wartenden Fahrgäste haben die Reißverschlüsse ihrer Funktionsjacken teils bis unters Kinn hoch gezogen, während sie, auf den Absätzen wippend, die blauen Anzeigetafeln anstarren, als könnten sie die Ankunft des beheizten Zuges so beschleunigen.

Ihnen gegenüber stehen die Hartgesottenen, die allenfalls die Kapuzen ihrer Hoodies überstreifen, den Reißverschluss dabei offen lassen, die Hände in den Taschen der tief sitzenden Jeans vergraben. Und dann gibt es da noch die Liebhaber dieser vielseitig einsetzbaren gepolsterten Westen. Elegant über den Pullover gestülpt wappnen sie ihre Träger gegen die gefühlte und echte Kälte, halten zugleich aber den lässigen Spätsommerlook aufrecht.

Beim Überschreiten der Türschwelle gerät das verdrehte Kältegefühl jedoch außer Kontrolle, werden all die kreativen Anpassungsmaßnahmen zum hoffnungslosen Kampf. Wenn man morgens im Büro intuitiv die Heizung aufdreht, bevor man sich den heißen Kaffee aufbrüht, derweil Omas selbstgestrickten wärmenden Schal anbehält, irgendwann dann aber doch dezent schwitzend das Fenster aufreißt. Dann, spätestens dann, wünscht sich so mancher ein kleines bisschen Hitzesommer zurück. Wegen des relativen Kältegefühls.

© SZ vom 26.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: