Kritik am Muezzin-Ruf:In der Zeit stehen geblieben

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Religiöse Praktiken sollen nicht nur bestimmten Gruppierungen zu Gute kommen

Von Thilo Schröder

Es soll ja lokale Politiker geben, die angesichts der Wiederaufnahme von Gottesdiensten fordern, religiöse Privilegien nur bestimmten Gruppierungen zu ermöglichen. Konkret: Der tägliche Muezzin-Ruf, mit dem die Islamische Gemeinde Freising gläubigen Muslimen zumindest einen kleinen Trost spenden will, für den hat ein die Farbe "blau" vertretender, "alternativer" Abgeordneter aus dem Landkreis Freising, der in Berlin im Bundestag sitzt, kein Verständnis.

Rufe eines Muezzin seien nicht mit Kirchenglocken zu vergleichen, die immerhin auch eine weltliche Bedeutung hätten, argumentiert er in einer aktuellen Pressemitteilung. Immerhin würden diese ja auch bei Hochzeiten und Trauerfeierlichkeiten läuten. Der Mann verschweigt, dass es sich dabei selbstverständlich jeweils um kirchliche Ereignisse handelt. Zudem würden die Glocken ja auch die Uhrzeit anzeigen, schwurbelt er weiter. Bekanntlich besitzt ja kaum ein Mensch im Jahr 2020 eine Armband-, Smartphone-, Küchen- oder Wanduhr, geschweige denn einen Fernseher, einen Computer oder ein Festnetztelefon mit so etwas wie einer Uhrzeitanzeige oder sonstige Chronometer.

Diese Argumentation mutet ebenso einfältig an wie das Argument, der Muezzin-Ruf stelle Allah über alle anderen Götter. Preisen nicht die meisten Religionen "ihren" Gott als den höchsten und größten an? Nachzulesen etwa in der Bibel oder dem Gotteslob. Möglicherweise, so lässt sich mutmaßen, drehen sich bei manchen Zeitgenossen die Zeiger auf der Uhr einfach etwas langsamer (Tipp: Atomuhr hilft) - wobei sie angesichts eines Weltbilds, das die im deutschen Grundgesetz verankerte Religionsfreiheit in Frage stellt, wohl eher vor einigen Jahrzehnten stehen geblieben sein dürften.

Vorschlag zur Güte: täglich um 20.30 Uhr, wenn der Muezzin-Ruf in Freising ertönt, einfach Kopfhörer aufsetzen und eine Youtube-Andacht, zum Beispiel der Evangelischen Kirche Freising, ganz laut aufdrehen. Die Videoclips dauern in der Regel gut 20 Minuten, reichen also für mindestens fünf Muezzin-Rufe.

Sollte man allerdings dabei bleiben wollen, es mit den Freiheiten in diesem Land lieber nicht so ernst zu nehmen, bliebe zu raten, doch bitte dann künftig auch auf das eigene Krakeelen zu verzichten. Diese Freiheit wäre dann nämlich auch einzuschränken.

© SZ vom 07.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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