Kriegsende in Neufahrn:Taschentücher als Friedensbotschaft

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Eine Stele hält die Erinnerung an die Leiden der Häftlinge im KZ-Außenlager bei Neufahrn wach. (Foto: Johannes Simon)

Pfarrer Otto Steinberger kann sich noch gut an den 29. April 1945 erinnern - damals rollten Panzer der US-Truppen Richtung Neufahrn

Von Birgit Grundner, Neufahrn

Der Neufahrner Pfarrer Otto Steinberger war noch ein Kind, als am 29. April 1945 amerikanische Panzer von Eching her auf Neufahrn zurollten. Er bekam das mit, weil er vom Bauernhof der Familie an der Dietersheimer Straße zum Ministrieren gehen wollte - es war ein Sonntag. Der Gottesdienst fiel aus, aber auf dem Heimweg sah Steinberger den Maurermeister Hans Grau mit SS-Leuten verhandeln. Diese wollten offenbar noch Maschinengewehre auf dem Turm der alten Kirche installieren. Doch das Glockenhaus hatte gar keine richtige Öffnung nach Westen. Der Maurermeister konnte den SS-Leuten offenbar einreden, dass eine weitere, neue Öffnung die Statik des Gebäudes gefährdet hätte.

Später wurde am Turm eine weiße Fahne - auf einem benachbarten Bauernhof schon am Vortag zusammengenäht aus zwei Betttüchern - gehisst. Am Nachmittag ging der Tagelöhner Hans Huber, der sich freiwillig gemeldet hatte, den Amerikanern mit einem weißen Betttuch entgegen. Und seine Mutter habe ihm und den Geschwistern noch weiße Taschentücher gegeben, hat Otto Steinberger einmal erzählt, "mit denen haben wir dann gewunken."

Die amerikanischen Truppen haben Neufahrn besetzt - und im Süden des Orts die Häftlinge im dortigen Außenlager des Dachauer Konzentrationslagers befreit. Die 500 Gefangenen waren in Baracken eingesperrt. Als der Zweite Weltkrieg für Deutschland längst verloren war, sollten sie in der Garchinger Heide mit Pickeln und Schaufeln noch eine Ersatzrollbahn für den oft bombardierten Flugplatz in Schleißheim bauen. Sie haben den Boden für die Piste noch abgetragen, auf Luftaufnahmen ist das nach wie vor deutlich zu erkennen. Der Historiker und frühere BR-Journalist Ernest Lang, Vorsitzender des Neufahrner Heimatvereins, hat sich intensiv mit diesem lange eher unbekannten Kapitel der Ortsgeschichte auseinandergesetzt. Die Häftlinge stammten aus ganz Europa, erzählt er. Die meisten seien aus einem KZ im Elsass nach Dachau und von dort nach Neufahrn gebracht worden. Politisch und rassisch Verfolgte seien ebenso dabei gewesen wie Homosexuelle und Kriminelle.

In alten Unterlagen hat Ernest Lang bei seinen Recherchen auch die Aussage von Johann Munk gefunden, der im März 1943 als "Zigeuner" inhaftiert wurde und in verschiedenen Konzentrationslagern war. Von Dachau aus wurde er schließlich nach Neufahrn verlegt. "Die SS-Wachmannschaften waren ein oder zwei Tage vor Ankunft der US-Truppen verschwunden", erzählte Johann Munk später, die "OT-Leute sind bei uns geblieben und sind von den Amerikanern in Gefangenschaft genommen worden."

OT war in diesem Fall die Bezeichnung für die Organisation Todt, den paramilitärischen "Baukonzern" der Nationalsozialisten, der vor allem Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge als Arbeitskräfte einsetzte.

Seit mittlerweile drei Jahren erinnert an der Dietersheimer Straße in der Gemeinde Neufahrn eine 2,20 Meter hohe Betonstele neben dem Gebäude des Wasserzweckverbandes an das ehemalige Dachauer KZ-Außenlager. Die Stele, die auf Initiative des Neufahrner Heimatvereins aufgestellt wurde, hat die Form eines gleichschenkligen Dreiecks. Sie symbolisiert die "Häftlingswinkel", welche die Gefangenen damals zur Kennzeichnung des Inhaftierungsgrundes immer an ihrer Kleidung tragen mussten.

So hatten rassisch Verfolgte einen schwarzen und Homosexuelle einen rosa Winkel an der Kleidung. Auf der Frontseite wurde eine Luftaufnahme vom 20. April 1945 angebracht. Deutlich sind die 18 Holzbaracken zu erkennen. Neben den Wohnbaracken gab es ein Krankenrevier, eine Wasch- und eine Küchenbaracke.

Auch wenn nach dem 29. April 1945 der Krieg endlich vorbei war: Wirklich friedliche Zeiten hatten damit noch nicht begonnen. Ehemalige KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene, aber auch amerikanische Soldaten stahlen und plünderten. Notvorräte, welche die Bevölkerung in den letzten Kriegswochen vorsorglich angelegt hatten, wurden zur Beute von Dieben. Auf der Straße zwischen Mintraching und Dietersheim wurde ein Lastwagenfahrer am 7. Mai von Räubern unter nie geklärten Umständen umgebracht.

Im Metzgerwirt - dem heutigen Hotel Gumberger - richteten die Amerikaner in Neufahrn vorübergehend ein Lazarett ein. Für die Amerikaner, aber auch für entlassene Häftlinge mussten außerdem die Häuser östlich der Bahnhofstraße geräumt werden.

Pfarrer Otto Steinberger erinnert sich, dass die Kinder damals immer die Kippen der Amerikaner gesammelt haben: "Wir haben sie den Rauchern gegeben und dafür großes Lob bekommen. Wir haben allerdings nicht alle abgegeben..."

© SZ vom 29.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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