Die Artischocke ist tatsächlich ein Problem. Serviert als ganze Blüte, besteht die Aufgabe darin, erst an das Fruchtfleisch in den Blättern und dann an das Herz zu gelangen - und zwar nicht irgendwie, sondern so, wie es sich gehört. Teil eins ist dabei mit den Fingern zu bewältigen. Die Blätter der Artischocke werden einzeln abgezupft, in einen der drei mitservierten Dips getaucht - und dann darf man das Fruchtfleisch ganz unten vorsichtig, ja, man muss wohl sagen: herausnagen. Sind die Blätter solcherart komplett entfernt, säubert man die Finger in der bereit stehenden Schale mit Zitronenwasser und es geht mit Messer und Gabel weiter, schließlich muss noch das an eine Punkfrisur erinnernde "Stroh" entfernt werden, bevor man an das Artischockenherz gelangt.
Zubereitet haben diesen ersten eines sechs Gänge umfassenden Menüs Harry Schmitt und sein Beikoch Constantin Moll, die im Mercure-Hotel in Freising kochen und an diesem Abend im Auftrag von Knigge-Coach Monika Riesch am Herd stehen: "Ess-Klasse" heißt das neue Seminar-Angebot, das Riesch und ihr Ehemann Christoph in Freising etablieren wollen. Unterstützt werden sie dabei von Hotelchef Benjamin Barth und seinen Azubis Jehnet Sejdiu und Antonio Matei, die sich an diesem Abend gewissenhaft und professionell um die Gäste kümmern.
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Die Artischocke hat's in sich
Bei der Artischocke gilt es, erst die Blätter mit den Fingern abzuzupfen. Später wird das "Stroh" mit Messer und Gabel entfernt.
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Bei der Languste hat der Gast die Wahl
Schalentiere gehören zum Fingerfood, Monika Riesch zeigt aber in dem Seminar auch, wie man sie stilvoll mit Besteck isst.
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Auch zum Hauptgang werden Tipps gereicht
Grundsätzlich gilt: Teller werden nicht herumgeschoben oder gedreht. Wer im Seminar Fragen hat, kann diese auf Zettel schreiben. Sie werden im Lauf des Abends beantwortet.
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Koch und Beikoch liefern die Seminargrundlage
Harry Schmitt (rechts) und sein Beikoch Constantin Moll tischen sechs Gänge auf.
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Schalentiere essen leicht gemacht
Keine Flecken aufs Hemd: Monika Rieschs Mann Christoph zeigt wie man die Languste als Fingerfood isst.
Gute Tischmanieren sind auch im Job hilfreich
Die künftigen "Schüler" der Ess-Klassen erwartet eine höchst unterhaltsame Kombination aus Wissenswertem zum Thema Umgangsformen, Etikette-Fragen und hervorragendem Essen. Denn dass gute Tischmanieren im beruflichen wie auch im Privatleben nach wie vor erfolgreiche Türöffner sind, davon ist Monika Riesch überzeugt. Tatsächlich hat sie in den vergangenen Jahren den Eindruck gewonnen, dass wieder mehr Wert auf gute Manieren gelegt wird - auch deshalb möchte sie nun die Idee mit den Ess-Klassen umsetzen.
Die Ausbildung zum Knigge-Coach hat Monika Riesch - in Freising bislang vor allem als Tanzlehrerin und Stadträtin der Freisinger Mitte bekannt - schon 2009 absolviert, bei Inge Wolff, der Vorsitzenden des "Arbeitskreises Umgangsformen international". Den Empfehlungen dieses "Knigge-Gremiums" folgt auch Riesch, wenn sie bei ihren Dinner-Veranstaltungen erklärt, was es mit der Anordnung des Bestecks auf dem Tisch auf sich hat, welche Gerichte als "Fingerfood" gegessen werden oder wann man bei Tisch dem Wein zusprechen darf und wann besser noch nicht. Wer Fragen hat, darf diese schon beim Aperitif auf einen Zettel schreiben und in ein bereitgestelltes Körbchen legen, sie werden dann im Laufe des Abends beantwortet.
Bei Brot empfiehlt sich die "Bröckchen-Flöckchen"-Technik
Tatsächlich gibt es schon die eine oder andere Falle, in die man bei einer offiziellen Einladung hineintappen kann. So muss die Serviette bei Tisch immer auf den Schoß gelegt werden. Wer etwas trinken möchte, muss sich vorher damit den Mund abtupfen - und sollte man aufstehen wollen, ist die Serviette gefaltet links auf dem Tisch abzulegen. Keinesfalls sollte man sich mit dem zu Beginn gereichten Brot einfach eine Stulle schmieren, Monika Riesch empfiehlt hier stattdessen die "Bröckchen-Flöckchen"-Technik: Mit dem entsprechenden Messer etwas Butter oder Dip auf den Brotteller befördern, ein Stück vom Brot abbrechen und dieses wiederum mit dem Messer bestreichen.
Das Brot später zum Sauce auftunken zu verwenden, ist ebenso verpönt, wie das Kippen eines Suppentellers, um die letzten Reste herauszulöffeln. Generell werden die Teller nicht auf dem Tisch herumgeschoben oder gedreht. Allerdings: Hat ein Suppenteller Henkel und ist nicht größer als eine Kaffeetasse, darf die Suppe getrunken werden, vorausgesetzt, man hat die Einlage vorher herausgelöffelt.
An diesem Abend kommt als Suppe eine hervorragende Geflügelkraftbrühe, gefolgt von einer weiteren Herausforderung: Eine rote Garnele mit Kirschtomaten, Rucola und Spaghettini. Schalentiere gehören neben der Artischocke und beispielsweise Wachteln zum Fingerfood, können aber auch mit Besteck gegessen werden. Wer für die Spaghettini einen Löffel bestellt, offenbart übrigens eine Wissenslücke: Erlaubt ist nur, die Nudeln mit der Gabel auf dem Teller aufzudrehen.
Der "Ranghöchste" entscheidet, ob man sich die Hand gibt
Monika Riesch und ihr Mann vermitteln all diese Feinheiten auf dem Weg zum perfekten Tischpartner oder Gastgeber locker und ohne erhobene Zeigefinger und neben all den Regeln bei Tisch kommen auch andere Feinheiten perfekter Umgangsformen nicht zu kurz, etwa, dass in einer Vorstellungsrunde immer der "Ranghöchste" das Recht hat, zuerst den Namen eines Neuankömmlings zu erfahren und dann entscheidet, ob man sich die Hand gibt. Oder, dass beim Small Talk die Themen Krieg, Tod und Geld ebenso verpönt sind, wie all zu eilige Fragen nach dem Verdienst. Die Emanzipation hat sich übrigens auch in Knigge-Fragen durchgesetzt. Heutzutage wird etwa der Wein immer vom Einladenden probiert, auch wenn es eine Frau ist, und auch Rechnungen dürfen anders als früher von Frauen beglichen werden.
Wichtig ist dem Ehepaar Riesch bei alledem zu betonen, dass, wer alle Regeln kennt, diese dann auch gerne brechen kann, etwa wenn es zum Essen zum Italiener nebenan geht - oder in geselliger Runde zuhause. Als Eltern von drei halbwüchsigen Söhnen "sitzen wir da ohnehin gerade im Glashaus und werfen mit Steinen" , gibt Monika Riesch lachend zu.