Obdachlosigkeit:"Manchmal waren es einfach nur zwei Schicksalsschläge zu viel"

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Seit 2021 ist der Freisinger Arzt Odo Weyerer mit seinem Medmobil unterwegs. (Foto: Marco Einfeldt)

Der Freisinger Arzt Odo Weyerer betreut umsonst Menschen, die auf der Straße oder in Notunterkünften leben und keine Krankenversicherung haben. Wenn es sehr kalt ist, dürfen sie sich in seinem beheizten Medmobil auch mal aufwärmen.

Von Davida Schauer, Freising

Mittwoch, 11 Uhr: Sepp sitzt in der Freisinger Wärmestube, wie fast jeden Tag. Seit vier Jahren sei er obdachlos, erzählt der 69-Jährige. Vor ein paar Tagen ging es ihm nicht so gut. "Mein Gott, ich wurde halt vom Herrn Weyerer ins Krankenhaus eingewiesen", sagt Sepp. Er sei komplett durchgecheckt worden, "aber ist alles gut gegangen". Der Freising Arzt Odo Weyerer, der seit 2021 ehrenamtlich mit seinem Medmobil durch Freising fährt und ärztliche Versorgung für Obdachlose bietet, hatte festgestellt, dass Sepp in keiner guten Verfassung war.

"Es ist jeden Tag schlechter geworden. Da hast du genau gemerkt, dem geht es nicht gut, ich kenn' ja meine Leute und seh, wenn sich ihr gesundheitlicher Zustand verändert", bestätigt auch Irmgard Schiffer. Die 75-Jährige arbeitet bereits seit zehn Jahren ehrenamtlich in der Freisinger Wärmestube, die sich auch um Menschen wie Sepp kümmert. Sie ist Vorsitzende des Vereins.

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Die Wärmestube wurde 1987 von der Caritas gegründet, inzwischen wird sie vom Verein "MenschSein" betrieben, den es seit 2005 gibt. Die soziale Einrichtung bietet Menschen in schwierigen Lebenslagen Hilfe und bekommt auch Unterstützung von Odo Weyerer. "Er übernimmt die medizinische Schiene. Wir sind da, wenn es irgendwo anders klemmt", erzählt Irmgard Schiffer. Der Arzt komme mindestens einmal pro Woche in die Wärmestube und kümmere sich um die medizinischen Anliegen der Menschen. Er wolle es möglich machen, dass wohnungslose oder obdachlose Menschen, die nicht krankenversichert sind "ordentlich medizinisch versorgt werden".

Wie viele Menschen kommen jeden Tag? "Es ist unterschiedlich, es kommt immer drauf an, wie die allgemeine Situation ist", sagt Irmgard Schiffer. "Im Moment haben wir im Durchschnitt zehn Leute, die uns täglich besuchen. Es werden aber noch sechs, sieben Leute extern versorgt, denen wird das Essen gebracht", ergänzt sie. Montag bis Freitag gibt es von 11 bis 14 Uhr warmes Mittagessen, am Sonntag ist ab 10 Uhr Brunch. Die Bedürftigen können dort kostenfrei ihre Wäsche waschen, duschen und sich an der Kleiderausgabe bedienen. Die Wärmestube läuft ausschließlich auf Spendenbasis. "Wir bekommen ziemlich viel, unser Tiefkühlschrank ist voller Gebäck", strahlt Irmgard Schiffer.

"Ich kann mir nicht vorstellen, den ganzen Tag daheim zu sitzen und nichts zu machen."

12 Uhr: Inzwischen ist fast jeder Tisch der Wärmestube belegt, alle Besucher sind bereits mit Mittagessen und Kuchen versorgt. Montag und Mittwoch spendet das Heilig-Geist-Spital das Essen. Dienstags und donnerstags kommt es aus dem Restaurant Viva Vita der Lebenshilfe. Ein Großteil der Menschen, die in die Wärmestube kommen, leben in Sozialwohnungen oder Notunterkünften. Es gibt aber auch welche, die kein Obdach haben. Die Besucher kämen nicht nur aus Freising, sondern auch aus Moosburg, Neufahrn, Zolling und weiteren umliegenden Gebieten, erzählt Schiffer, sie habe sogar schon Gäste aus Tschechien oder Polen gehabt.

Es sei immer einiges zu tun, doch die Arbeit gebe ihr viel. "Ich bin zwar auch kein Jungspund mehr, aber ich kann mir nicht vorstellen, den ganzen Tag daheim zu sitzen und nichts zu machen", sagt die 75-Jährige. Ihr großes Ziel sei es, mit ihrem Team, bestehend aus 20 ehrenamtlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, dieses Jahr noch andere Gruppen in Not zu erreichen: Senioren oder junge Menschen. Derzeit bestehe die Klientel zu 95 Prozent aus Männern: "Es liegt in der Natur der Sache, Frauen vergraben und schämen sich eher", weiß sie. Was man beachten muss: "Wenn sich die Menschen vernünftig und ordentlich unterhalten, gibt es was zu essen, sind sie unhöflich und laut, dann müssen sie gehen, da sind wir strikt. Aber es gibt nicht oft Stress."

Der Freisinger Arzt Odo Weyerer ist seit 2021 mit dem Medmobil unterwegs. (Foto: Marco Einfeldt)

Gegen 13 Uhr kommt Odo Weyerer. Vor 35 Jahren hatte seine Mutter bereits in der Wärmestube mitgearbeitet. Zu der Zeit war er noch mit seinem Studium beschäftigt, danach war er als Arzt viel unterwegs, in Nepal auch in Tansania. "Dann bin ich älter geworden und hatte auch meine gesundheitlichen Einschläge." Da habe er gemerkt:"Hoppla, ich muss nicht mehr groß durch die weite Welt fahren, es gibt auch hier arme, bedürftige Menschen." Die schwierigsten Fälle, merkt er an, seien diejenigen, die irgendwo unter der Isarbrücke schlafen, die man gar nicht mehr in der Wärmestube sehe. So kam ihm die Idee, einen Krankenwagen aufzutreiben und regelmäßig "die wichtigsten Orte abzuklappern".

Das "Medmobil", mit dem er nun unterwegs ist, sei 2019 eine Spende von Peter Aicher gewesen. Der lasse den Wagen heute noch weiter auf sich laufen und zahle die Versicherung. Mit weiteren Spenden konnte der Wagen optimal ausgestattet werden, auch der Rotary Club München-Flughafen unterstützt ihn.

13.30 Uhr: Odo Weyerer macht sich auf den Weg zu seiner Visite auf der Straße. "Ich bekomme keinen Pfennig dafür und fahre das Medmobil in meiner Freizeit", erklärt der Arzt. "Ich hab' so viel Glück gehabt in meinem Leben, ich wollte nie Medizin studieren. Ich musste meinen Zivildienst im Krankenhaus antreten. Dort hat es mir so gut gefallen, heute bin ich glücklich, dass ich da meinen Traumberuf erleben und kennenlernen durfte", erzählt er.

Auch am Freisinger Bahnhof wird Odo Weyerer erwartet. (Foto: Marco Einfeldt)

Ankunft am Freisinger Bahnhof: "Ich stelle mich jetzt einfach auf den Behindertenparkplatz, ich darf das, ich habe eine Erlaubnis, extra für soziale Zwecke." Am Bahnhof warten bereits Weyerers Patienten. Zehn bis 20 habe er regelmäßig, sagt er. Er kennt sie, sie freuen sich, ihn zu sehen. "Braucht ihr was?", fragt der Arzt lachend, als er herzlich empfangen wird. "Na, ich habe noch Tabletten", antwortet ein Mann aus der Gruppe.

Das Verhältnis zwischen ihm und seinen Patienten wirkt ausgelassen, beinahe freundschaftlich. "Die haben immer am meisten Angst, dass ich ihnen das Bier austrinke", scherzt er. Muck erzählt, "ich kenn' den Weyerer schon drei Jahre. Ich finde es super, was er macht und bin froh drum, dass er jede Woche kommt". Muck kommt mit zum Krankenwagen: Blutdruck messen steht für ihn an. "Setz dich hin und Arm frei machen", fordert Weyerer auf."

Den Blutdruck zu messen gehört zur Routine. (Foto: Marco Einfeldt)

Kurz bevor Odo Weyerer fahren will, klopft ein Mann ans Fenster des Medmobils: "Someone told me doctor is coming." Der Mann fragt nach Schlafmitteln. Nach einer kurzen Beratung erzählt Weyerer, "es kommt tatsächlich am häufigsten vor, dass die Menschen Schlaf- oder Schmerzmittel von mir bekommen möchten, doch ich gebe keine starken Schlaftabletten heraus, das Suchtpotenzial ist bei den meisten Menschen zu hoch. Ich nehme auch prinzipiell keine Opiate mit. Dann besteht keine Gefahr, dass ich überfallen werde." 620 Beratungen hat er bis jetzt vorgenommen: "Sicher mehr als die Hälfte sind suchtkrank".

Der Winter sei hart für diese Menschen, erzählt Weyerer. "Ich habe schon Tage gehabt, an denen ich sie hinten in den Krankenwagen gesetzt und die Heizung für eine Stunde angemacht habe, damit ihnen wieder einigermaßen warm wird." An Weihnachten habe er Carepakete verteilt.

Odo Weyerer bei der Visite in der Notunterkunft. (Foto: Marco Einfeldt)

In der städtischen Notunterkunft an der Unteren Isarau trifft der Arzt Miguel. Er lebt sei zwei Jahren dort und ist ebenso vertraut mit Odo Weyerer. Miguel ist froh, dass er kommt, seit er vor einigen Wochen einen Schlaganfall hatte, mit nur 45 Jahren. Miguel lebt mit fünf weiteren Personen in der Wohnung. In seinem Zimmer stehen noch zwei Betten. Weyerer hört ihm zu, berät ihn und gibt ihm Medikamente. Nach der Visite stellt der Arzt gerührt fest: "Wenn Miguel mir die Hand gibt, so herzlich und dankbar, das tut einfach gut, das reicht mir als Belohnung. Ich weiß einfach, dass es von Herzen kommt."

Er sei selbst in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen, sagt Odo Weyerer. "Auf meinem Lebensweg habe ich Phasen gehabt, wenn ich da mal falsch abgebogen wäre, hätte ich jetzt genauso obdachlos sein können. Glück, Zufall und reichlich Hilfe verdanke ich, dass ich mein Leben nun so leben kann, wie ich es jetzt tun kann." Und er sagt noch etwas: "Den Menschen, die auf der Straße leben, tut man oft unrecht. Die sind nicht faul, die hatten einfach ein, zwei Schicksalsschläge zu viel."

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