Während zu Hause der Krieg tobt:Weihnachten in der Fremde

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Zum ersten Mal feiern Anna Goryna (links) mit Sohn Kiril und Olena Drobot mit Tochter Lada nach ihrer Flucht aus der Ukraine Weihnachten in Freising. (Foto: Marco Einfeldt)

Die Ukrainerinnen Olena Drobot und Anna Goryna sind aus Kiew und Mariupol nach Freising geflohen. Verwüstung, Trümmer und Tote waren auf ihrer Flucht allgegenwärtig. Doch die Frauen bleiben stark und tun alles, um ihren Kindern trotz allem ein schönes Weihnachtsfest zu bereiten.

Von Pauline Held, Freising

Einmal, es war im Jahr 2005, feierte Olena Drobot Silvester in der Hauptstadt Kiew. Menschenmengen zogen durch die hell beleuchteten Straßen. Auf dem Platz der Unabhängigkeit, dem Maidan-Platz, ragte eine bunt geschmückte Tanne in den Himmel. Die Leute tranken Glühwein, auf einer Bühne spielte eine Band. In dieser Nacht waren die Menschen glücklich, erinnert sich Olena Drobot. Ihre Freundin Anna Goryna ergänzt: "Bevor Russland kam, waren alle Ukrainer glücklich."

17 Jahre nach der Silvesternacht in Kiew sitzt Olena Drobot auf der Eckbank in einer Küche in Freising. Mittlerweile ist sie 44, die Haare hat sie zu einem strengen Zopf gebunden. Sie ist müde von ihrer Flucht aus der Ukraine, von der Sorge um ihre zwei erwachsenen Söhne, die das Land nicht verlassen dürfen. Sie seufzt: "Körperlich bin ich zwar hier. Aber in Gedanken bin ich immer bei ihnen." Doch Olena Drobot muss stark sein, für ihre neunjährige Tochter Lada, die ihre Katze, ihre Freunde und ihre Brüder vermisst. Immer wieder betont Drobot auf deutsch, wie dankbar sie ist für alle ehrenamtlichen Helfer, die sie und Lada vor rund acht Monaten empfingen, die ihnen ein Zuhause auf Zeit gaben.

Lada hat von ihrer Mutter eine große Puppe zum Nikolaustag geschenkt bekommen

Dankbar ist auch ihre Freundin Anna Goryna, die neben ihr auf der Eckbank Platz genommen hat. Die 30-Jährige kam am 27. März aus Mariupol mit ihrem Sohn Kirill nach Freising. Zu diesem Zeitpunkt dachte sie, dass sie spätestens nach zwei Wochen in ihr Heimatland zurückkehren wird. Dass sie Weihnachten und Silvester mit ihrem neunjährigen Sohn in Freising verbringt - für Goryna damals unvorstellbar.

Doch sie ist immer noch hier. An diesem Montag feierten sie und Olena mit den Kindern den St. Nikolaustag, bei den orthodoxen Christen in der Ukraine kommt der Heilige erst am 19. Dezember. Olenas Tochter Lada betritt die Küche, sie strahlt: Eine riesige Puppe hat sie von ihrer Mutter zu Nikolaus bekommen, erzählt sie auf Deutsch, und reckt die Hände in die Höhe. Lada besucht die dritte Klasse einer Freisinger Grundschule. In ihrer Klasse ist sie das einzige ukrainische Kind. Gemeinsam mit ihrer Mutter lebt sie in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Freising, die sie sich mit einer Freundin teilen. Das Zimmer von Mutter und Tochter ist zwölf Quadratmeter groß.

In der Ukraine arbeitete Olena Drobot als Landschaftsgärtnerin. Auch in Deutschland hat sie bereits Arbeit gefunden. Gerade digitalisiert sie das Archiv einer Landschaftsplanungsfirma. Dazu kommen jede Woche 20 Stunden Deutschkurs. Mit dem Geld, das sie verdient, schickt sie Campinglampen und Lebensmittel zu ihren Söhnen in die Ukraine. Denn dort gibt es zurzeit nur selten Strom. Die beiden haben sich einer Bürgertruppe in Kiew angeschlossen und versuchen, die zerstörte Stadt wieder aufzubauen.

Anna Goryna wird im nächsten Jahr eine Ausbildung zur Krankenschwester im Klinikum beginnen

Ihre Freundin Anna Goryna lächelt stolz. In ihrer Tasche hat sie einen Ausbildungsvertrag zur Krankenschwester im Klinikum Freising: "Ab September werde ich hier eine Ausbildung machen. Wir wollen in Deutschland bleiben. Wir können nicht zurück." Ihre Wohnung hat Anna Goryna an die Russen verloren, das Haus ihrer Eltern in Mariupol ist abgebrannt, ihre Verwandten wurden nach Russland zwangsevakuiert. Wenn sich Anna Goryna an den Kriegsbeginn in Mariupol erinnert, verschwindet ihr Lächeln. Ihre Stimme bricht, immer wieder sagt sie auf deutsch: "Entschuldigung, aber ich bin traurig." Was Anna Goryna und ihr Sohn Kirill in Mariupol und auf ihrer Flucht erlebt und gesehen haben, werden sie nie vergessen können.

Am 24. Februar wurde Anna Goryna von lauten Explosionen aus dem Schlaf gerissen. Mit ihrem Sohn flüchtete sie zu ihren Eltern, die in der Stadtmitte neben dem Theater von Mariupol lebten. Während der Bombardierungen harrte die Familie im Keller des Theaters aus, ansonsten versteckten sie sich im Haus der Eltern. Bereits am zweiten Kriegstag fielen Wasser, Gas und Strom aus. Auf der Straße feilschten die Leute um Lebensmittel. Schließlich kratzten sie den Schnee von den Autos, um etwas zu trinken zu haben.

Dann kam der 16. März und damit der Tag, an dem das Theater von Mariupol bei einem Luftangriff der russischen Armee völlig zerstört wurde. Bis zu 1000 Zivilisten befanden sich zu diesem Zeitpunkt in den Schutzräumen unter dem Theater. Darunter auch Anna Goryna und ihr Sohn. Rund 600 Menschen starben bei dem Luftangriff, unter ihnen auch Kinder. Und das, obwohl ein Bühnenbildner groß das Wort "Deti" auf den Theatervorplatz gepinselt hatte, russisch für "Kinder". Anna Goryna und Kirill überlebten.

Bomber kreisten über der Stadt, als Anna Goryna und ihr Sohn aus Mariupol flüchteten

Irgendwann hielten sie es nicht mehr aus. In der Stadt gab es kaum noch Lebensmittel, das Theater war stark zerstört und bot keinen Schutz. Eine Frau war bereit, sie und ihren Sohn im Auto mitzunehmen. Ohne ihren Pass, nur mit ihrem Handy und ihrem Rucksack sprang sie in das Auto und fuhr unter den Bombern, die über der Stadt kreisten, davon. Nach sieben Tagen kamen sie in Lwiw in der Westukraine an. Auf ihrem Weg wurden sie mehrmals von russischen Wachposten aufgehalten, sie nahmen ihrem Sohn das Tablet weg. "Überall lagen Leichen. Das hat auch mein Sohn gesehen", erzählt Anna Goryna. In Lwiw sind sie in einen Evakuierungszug gestiegen, der sie über Polen und Tschechien nach Deutschland brachte: "Es war so eng. Keiner konnte sitzen, nur die Kinder durften sich auf die Gepäckablage legen." Erst in Polen bekamen sie nach über einer Woche wieder etwas Richtiges zu essen. Die beiden hatten kein Ziel, sie wollten nur weg, von den Sirenen, den Bomben und der Front: "Ich habe mich nie sicher gefühlt."

Auch Olena Drobot schaffte es mit Lada in einen Evakuierungszug. Sie lebten in einem kleinen Ort im Großraum Kiew, in der Nähe eines Militärflughafens, den die russische Armee gleich am ersten Kriegstag bombardierte. Nachdem sie sich zwei Wochen im Keller verschanzt hatten, flüchtete sie mit ihrer Tochter zu Verwandten nach Moldau. Nach Nächten in einer Kirche ging es für sie weiter nach Deutschland, zu einer Familie in Freising.

Olena Drobot erinnert sich: "Im letzten Dezember, als noch Frieden herrschte, hatte ich den Traum, einmal Weihnachten in Deutschland zu verbringen." Drobot fing an, mit einer App deutsch zu lernen und schaute sich Bilder von Weihnachtsmärkten und deutschen Städten im Internet an. "Das ist jetzt aus meinem Traum geworden."

Den 24. Dezember wird sie mit Lada ruhig zuhause verbringen. Denn in der Ukraine feiern die orthodoxen Christen Heiligabend erst am 6. Januar. Anna Goryna erzählt: "Das war immer ein großes Familienfest. Wir sind in die Kirche, mit Körben voller Lebensmittel. Die ließen wir segnen und zuhause aßen wir alles auf." Dabei darf auf keinen Fall "Kutja" fehlen, ein süßer Brei aus Weizenkörnern mit Walnüssen, Honig und Rosinen. In Freising wollen sie sich am 6. Januar mit Freunden treffen. An Silvester möchte Olena Drobot mit Lada durch Freisings Straßen spazieren und schauen, was die Leute so machen. Beiden gefällt es gut in Deutschland. Anna Goryna lacht: "Wenn meine Nachbarn bayerisch sprechen, verstehe ich kein Wort." Die beiden Frauen wollen besser deutsch lernen. Anna Goryna freut sich auf ihre Ausbildung im Klinikum und Olena Drobot ist zufrieden mit ihrer Arbeit in der Landschaftsplanungsfirma. Von Deutschland aus kann sie ihre Söhne finanziell unterstützen, weshalb sie vorerst hier bleiben möchte.

Für 2023 haben die Frauen nur einen Wunsch: Den Sieg der Ukraine und das Ende des Krieges.

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