Sorge um den Bruder:"Alle haben unfassbare Angst"

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Jeden Tag telefoniert Lal Quaraishi mit seiner Familie in Afghanistan. Vor allem sein größerer Bruder sei in großer Gefahr, erzählt er. (Foto: Marco Einfeldt)

Lal Quaraishi kam 2016 nach Deutschland und lebt in Freising. Sein Bruder aber, der für US-Soldaten gearbeitet hat, ist noch in Afghanistan und versucht verzweifelt aus dem Land herauszukommen. Für ein Visum ist es jetzt zu spät.

Von Marie Schlicht und Pia Schiffer, Freising

Den 15. August 2021 wird man in Afghanistan nicht mehr vergessen: Präsident Ashraf Ghani floh aus dem Land und die Hauptstadt Kabul fiel nach 20 Jahren erneut in die Hände der radikal-islamistischen Taliban. "Niemand hat damit gerechnet, dass die Taliban so schnell das gesamte Land übernehmen", sagt Lal Quaraishi. Der gebürtige Afghane kam im Jahr 2016 nach Deutschland und lebt in Freising, die aktuelle Entwicklung sieht er mit großer Sorge.

In Afghanistan habe er mit Streitkräften der Nato zusammengearbeitet, erzählt Lal Quaraishi. Am Flughafen in Masar-e Scharif, dem ehemaligen Hauptstützpunkt der Bundeswehr in Afghanistan, habe er vorwiegend den deutschen Soldaten als Englisch-Dolmetscher gedient, berichtet Quaraishi. Zu dieser Zeit sei die Lage in seinem Heimatland noch längst nicht so prekär gewesen. Und das, obwohl sich die Sicherheitslage laut Amnesty International schon 2015 gravierend verschlechterte und das "Gewaltniveau" deutlich zunahm. Schon damals trugen die Taliban und andere bewaffnete Gruppen Verantwortung für zahlreiche Opfer.

"Jetzt sind sie überall"

"Zwar gab es auch in den Dörfern schon Taliban, aber beispielsweise in Masar-e Scharif und auch in anderen Städten waren sie noch völlig machtlos", erinnert sich Quaraishi. "Jetzt sind sie überall und übernehmen das ganze Land."

Während ihrer raschen Machtübernahme erfuhren die Taliban kaum Widerstand. Quaraishi macht der fehlende Rückhalt durch die Regierung wütend, er ist enttäuscht. "Der afghanische Präsident hat den Soldaten befohlen, kampflos aufzugeben. Deswegen haben sie sich auch in meiner Heimatstadt nicht verteidigen können. Die Zivilbevölkerung wollte kämpfen", schildert er. Dies sei jedoch nicht ohne Unterstützung der Regierung möglich gewesen, irgendwann sei die Munition ausgegangen. Dann habe man sich geschlagen geben müssen. Noch schlimmer findet Quaraishi jedoch die Tatsache, dass der Präsident das Land anschließend einfach verlassen habe. "Er hat sein Land im Stich gelassen, genauso wie die anderen Politiker auch. Die Parlamentsmitglieder mit ihren Familien haben ebenfalls alle das Land verlassen."

Lal Quaraishi schläft kaum noch

Auch wenn er selbst in Sicherheit ist, waren die vergangenen Tage für Quaraishi von Angst, Sorge und Wut geprägt. "Zwar befinde ich mich hier in einem sicheren Land, aber ich denke jeden Tag an meine Familie. Seit vier Nächten kann ich gar nicht mehr schlafen, höchstens mal zwei Stunden, dann wache ich wieder auf und schaue Nachrichten, telefoniere mit meiner Familie, insbesondere mit meiner Mutter", erzählt Quaraishi. Er ist der Einzige aus seiner Familie, der in Deutschland lebt; seine Eltern und Geschwister sind alle noch in Afghanistan. "Momentan hören wir uns jeden Tag. Alle haben unfassbare Angst, insbesondere mein älterer Bruder."

Der Bruder von Quaraishi hat nach seinen Worten 2019 mit amerikanischen Soldaten zusammengearbeitet. Vor allem er sei deshalb in Gefahr und seine Angst, gefunden zu werden, umso größer. Die USA wollten solche Personen bei sich aufnehmen. Innerhalb der einen Woche, die die Taliban für die Machtübernahme gebraucht haben, sei es jedoch unmöglich gewesen, ein Visum oder einen Pass zu beantragen. "Jetzt ist es zu spät."

Seit Tagen versteckt sich der Bruder im Haus

Sein Bruder verstecke sich seit drei Tagen im Haus, rausgehen könne er nicht. Jegliche Zertifikate und Unterlagen, die ihn in Verbindung mit seinem früheren Arbeitgeber bringen, habe er inzwischen versteckt. Die Taliban kämen teilweise in die Häuser, um zu überprüfen, für wen die Bewohner arbeiten und ob sie Waffen besitzen, berichtet Quaraishi.

Besonders hart getroffen habe es auch die Frauen. "Die Frauen haben keine Rechte mehr. Man darf nicht mehr anziehen, was man möchte, sondern nur noch das, was die Taliban vorschreiben", so Quaraishi. Seine Schwester sei zwölf Jahre lang zur Schule gegangen, im Anschluss habe sie vier Jahre studiert. Jetzt dürfe sie nicht mal mehr alleine das Haus verlassen. "Den Menschen wurde ihre Zukunft gestohlen. Wir sind einfach 20, 30 Jahre zurückgeworfen worden."

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Hoffen auf die US-Regierung

Verzweifelt berichtet Quaraishi von seinen Versuchen, die eigene Familie aus Afghanistan zu retten. Er habe in den vergangenen Tagen mehrere E-Mails an die amerikanischen Botschaften in Pakistan und Iran geschickt. Nun hofft er, dass die amerikanische Regierung wie versprochen den Bruder und vielleicht sogar die gesamte Familie aufnimmt. "Wenn ich irgendeinen Weg wüsste, wie ich meine Familie aus dem Land bekomme, würde ich das sofort machen. Ihre Sicherheit ist das Einzige, was ich mir gerade wünsche."

2020 lebten rund 270 000 Menschen mit afghanischen Wurzeln in Deutschland. Jedoch ist auch für viele von ihnen die Zukunft ungewiss, jetzt sind die Sorgen noch einmal größer geworden. Das Visum stehe bei einigen Geflüchteten - auch im Landkreis Freising - immer noch aus, sagt Jan Drobniak, Leiter der Flüchtlings- und Integrationsberatung der Diakonie Freising.

© SZ vom 18.08.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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