Freising:Ein Leben in Ungewissheit

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May Shoon Lei Nyein floh vor drei Jahren von Myanmar nach Deutschland. (Foto: Johannes Simon)

Die 27-Jährige May Shoon Lei Nyein floh vor drei Jahren von Myanmar nach Deutschland. Heute arbeitet sie im Gewandhaus Gruber in Freising und hat dort eine Ausbildung begonnen. Ihr Arbeitgeber ist froh, dass sie da ist. Ob sie bleiben darf, ist nicht sicher.

Von Ella Rendtorff, Freising

Am Donnerstagnachmittag ist die Damenabteilung des Gewandhaus Gruber in der Freisinger Innenstadt gut besucht. Zwei Kundinnen lassen sich beraten, eine junge Frau stöbert durch die bunte Frühjahrskollektion. Weiter hinten an der Kasse klingelt das Telefon. Eine Mitarbeiterin in knallorangenem Blazer nimmt den Anruf entgegen: "May Shoon Lei Nyein hier, wie kann ich weiterhelfen?"

Ein halbes Jahr ist es her, dass die 27-Jährige ihre Ausbildung als Einzelhandelskauffrau in dem Freisinger Bekleidungsgeschäft begonnen hat. An drei Tagen in der Woche sortiert sie die Ware, berät Kundinnen oder nimmt, wie in diesem Moment, Bestellungen per Telefon auf. Was heute zu ihrem Alltag gehört, lag für die junge Frau drei Jahre zuvor noch knappe 8000 Kilometer entfernt. Am 26. Dezember 2019 steigt die Myanmarin am Münchner Flughafen aus der Maschine. In ihrem Heimatland herrschen seit den 1960er Jahren immer wieder Kriegszustände. Gewaltsame Militärputschs und massive Menschenrechtsverletzungen an ethnischen Minderheiten erschüttern den südostasiatischen Staat.

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Für May Shoon Lei Nyein war klar: In diesem Land kann sie nicht bleiben. Ihre Mutter, mit der sie vor ihrer Ausreise ein Bekleidungsgeschäft in der Stadt Yangon führte, organisierte ihr ein deutsches Visum, dass der damals 24-Jährigen das Tor zu einem neuen Leben öffnen sollte. Dieses Leben beginnt in einem Flüchtlingslager in Fürstenfeldbruck.

"Alles war dort neu für mich", erinnert sich May, "die Sprache, die verschiedenen Kulturen im Camp, die vielen Menschen auf einem Fleck." Während im Bundestag Infektionsschutzgesetze im Kampf gegen das neuartige Coronavirus verabschiedet wurden und eine Kontaktbeschränkung auf die Nächste folgt, teilte sich May in der Erstunterbringung ein Zimmer mit sechs weiteren geflüchteten Frauen. An diese Zeit denkt sie nur ungerne zurück. "Ich habe jeden Tag geweint. Es war wirklich schwer für mich am Anfang, so ganz alleine."

May Shoon Lei Nyein liebt ihre Arbeit. (Foto: Johannes Simon)

Nach neun Monaten quartierten die Behörden sie in ein Heim in der Gemeinde Wolfersdorf bei Freising ein. Das Flüchtlingscamp lässt sie hinter sich, die Einsamkeit bleibt. Gerade einmal 2500 Einwohner zählt ihr neuer Wohnort, nur drei Mal täglich hält dort ein Bus. May aber lässt sich nicht unterkriegen. Jeden Tag fährt sie zu einem Deutschkurs nach München, paukt Vokabeln und Grammatik. Die Anreise ist beschwerlich: Morgens um 6.45 Uhr steigt sie in den Regionalbus nach Freising, wartet eine Stunde am Bahnhof, bis der Zug nach München abfährt. "Es war wirklich anstrengend, aber ich war froh, dass ich den Kurs machen konnte." Ihr Ehrgeiz zahlt sich aus: noch im Jahr ihrer Ankunft besteht sie die B2-Prüfung - später ihr Joker im Glücksspiel um eine Ausbildungsstelle in Bayern.

Von ihrem zukünftigen Arbeitsplatz im Freisinger Gewandhaus weiß May allerdings noch nichts, als sie im Frühjahr 2022 bei einem Asylhilfswerk in München nach Unterstützung sucht. Hier kommt Susann Liebe ins Spiel. Die Willkommenslotsin ist für den Helferkreis der Gemeinde Zolling aktiv - über ein ehrenamtliches Netzwerk wurde Mays Hilferuf an sie weitergeleitet. An einem Wochenende im Mai zieht Susann Liebe los in Richtung Wolfersdorf, um May zu suchen - und zu finden. Was ihr bei der ersten Begegnung auffiel? "Ich war beeindruckt und begeistert davon, wie gut May Deutsch spricht. Mir war direkt klar: Sie kann das schaffen."

"Zurück kann ich nicht mehr, ich möchte in Deutschland bleiben."

Die junge Frau selbst ist sich ihrer Sache zu diesem Zeitpunkt noch nicht so sicher: Ihre verschickten Bewerbungen an Supermarktketten werden alle abgelehnt. "Das war so schade", erinnert sie sich. May hat eine Aufenthaltsgestattung in Deutschland - ein Titel, aus dem Unsicherheit spricht. "Wer in Gestattung ist, dem sind Hände und Füße gebunden", weiß Susann Liebe. Ohne die Unterstützung durch Hilfsnetzwerke sei es für Geflüchtete quasi unmöglich, sich im Dschungel der Bürokratie zurechtzufinden. Aufgeben ist für May jedoch keine Option. Mit Susann Liebes Hilfe findet sie schließlich eine Praktikumsstelle im Bekleidungsgeschäft Fashion and More in der Freisinger Innenstadt. "Der erste Schritt war, May aus Wolfersdorf raus zu bekommen." Im Juli packt sie ihren Koffer und zieht zu einer Familie nach Freising, die sie bei sich aufnimmt - für zwei Wochen. Wie es danach weiter geht, bleibt vorerst ungewiss.

Die nächste Etappe führt May zurück in ein Heim für Geflüchtete. Diesmal immerhin in Freising. Zehn Quadratmeter teilt sie sich hier mit einer Nigerianerin. Ein Leben auf engstem Raum, das Bett steht direkt vor dem Herd, für Privatsphäre ist kein Platz. May verbringt schwere Zeiten, sie vermisst ihre Heimat und ihre Familie. Dennoch ist ihr bewusst: "Zurück kann ich nicht mehr, ich möchte in Deutschland bleiben." Die Zusage für einen Ausbildungsplatz im Gewandhaus Gruber bringt Licht ins Dunkle. Für die nächsten zwei Jahre ist ihr der Aufenthalt in Deutschland damit relativ sicher - alle sechs Monate muss sie ihren Status allerdings trotzdem verlängern lassen. "Ich habe jedes Mal Angst, zum Amt zu gehen", erzählt May, aus ihren Augenwinkeln blitzt Verunsicherung. Diese Angst könne man ihr eigentlich nehmen, klärt Susann Liebe auf. "May hat gute Chancen. Sie ist fleißig, lernt schnell und hat nun einen festen Ausbildungsplatz."

"So viel Willensstärke habe ich noch nicht erlebt."

Vor fünf Monaten hat May es geschafft: Mithilfe von Susann Liebe und ihrem Netzwerk konnte sie ein Privatzimmer in Freising beziehen. Die Miete zahlt sie von ihrem Ausbildungsgehalt, ein weiterer Schritt in Richtung Unabhängigkeit. Indem sie auf finanzielle und soziale Leistungen des Staates verzichtet, die ihr als Asylbewerberin zustünden, genießt sie mehr Freiheiten. "Das ist gut", sagt May erleichtert. "Ich möchte eigenständig arbeiten, Neues dazu lernen und mein Zimmer verlassen, wann ich will." Was nach Selbstverständlichkeiten klingt, ist in der Realität von Asylbewerberinnen wie May ein Privileg. Sozialleistungen sichern zwar die Grundbedürfnisse, binden Empfängerinnen und Empfänger aber an die Behörden. Die Integration in den deutschen Arbeitsmarkt wird dadurch deutlich erschwert. Dass es so schnell gelingt, ausreichend Sprachkenntnisse zu erwerben und einen sicheren Ausbildungsplatz zu finden, sei leider selten, bedauert Susann Liebe. May sei da ein Sonderfall gewesen: "So viel Willensstärke habe ich in meinen sieben Jahren als Willkommenslotsin noch nicht erlebt."

Im Gewandhaus Gruber hat die Auszubildende nach der Mittagspause alle Hände voll zutun. Drei Jahre und vier Monate ist es nun her, dass sie nach Deutschland kam. "Seitdem habe ich so viele Erfahrungen gemacht. Früher habe ich immer gedacht, ich kann das nicht alleine", erzählt die 27-Jährige, während sie gerade dabei ist, Kleiderbügel umzuhängen, "jetzt denke ich positiv und sage mir immer: May, du kannst alles schaffen!"

Willkommenslotsin Susann Liebe macht im Gespräch über ihre Begegnung mit May auf einen ähnlichen Fall im Landkreis Freising aufmerksam: Eine junge Asylbewerberin, die hier nicht namentlich genannt werden möchte, sucht dringend nach einer bezahlbaren Bleibe ab August. Genau wie May Shoon Ley Nyein hat auch sie es geschafft, einen Ausbildungsvertrag zu erhalten. Von ihrem Wohnort im nördlichen Landkreis ist ihr zukünftiger Arbeitsplatz, eine Zahnarztpraxis, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln allerdings kaum erreichbar.

Wohnmöglichkeiten aller Art können auf der Webseite www.freising-hilft.de oder über den Helferkreis Zolling für Asyl und Integration unter Tel. 0172/6727536 oder wohnen@hk-zolling.de angeboten werden.

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