Agenda-21-Treffen in Freising:Hilfe ohne Stigmatisierung

Lesezeit: 3 min

Um an sämtlichen Bereichen des öffentlichen Lebens teilhaben und etwa ein Schwimmbad vergünstigt nutzen zu können, müssen Bedürftige oft diverse Nachweise und somit ihre Armut offenlegen. Diskreter ginge das mit einem Stadtpass. (Foto: Marco Einfeldt)

Die Gruppe "Tisch füreinander" diskutiert über die Einführung eines Stadtpasses, der Bedürftige unterstützen soll. Doch auch andere aktuelle Krisen und Herausforderungen beschäftigen die Teilnehmer des Treffens.

Von Lena Meyer, Freising

Freising ist reich. Nicht nur an Kulturschätzen, sondern auch bemessen nach dem verfügbaren Einkommen. Dieses lag im Jahr 2019 für den Landkreis bei 25.426 Euro. Damit landete Freising bundesweit auf einem vorderen Platz. Auf den ersten Blick könnte man also meinen, alle Bürgerinnen und Bürger wären von Wohlstand betroffen. Auf den zweiten erkennt man aber: Armut ist auch im Landkreis Freising vorhanden, wenn auch verdeckt. Hohe Mieten und Lebenserhaltungskosten stellen eine große Belastung für Menschen mit geringem Einkommen dar. Hinzu kommen Inflation, steigende Energiekosten und die Auswirkungen der Pandemie. Eine Teilhabe an einem gesellschaftlichen, öffentlichen Leben gestaltet sich aus finanzieller Sicht schwer.

Um Betroffene zu entlasten, möchte die Agenda-Gruppe "Tisch füreinander" einen erweiterten Stadtpass einführen. Dieser neutral gewählte Titel soll eine Stigmatisierung von Bedürftigen verhindern: "Wenn wir schon immer von Scham reden, dann nicht auch von Sozialpass", begründet Sozialreferentin Charlotte Reitsam (Bündnis 90/Grüne) die Namenswahl. Um nötige Informationen und Fachwissen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen zusammenzutragen, gehören die Mitglieder des "Tischs füreinander" verschiedenen Organisationen an. Am Montag traf sich die Gruppe, um Ergebnisse festzuhalten und ein weiteres Vorgehen zu besprechen.

Ohne einen Stadtpass sind Betroffene oft Scham oder bürokratischen Hürden ausgesetzt

Zwar gibt es bereits den Sozialpass in Freising. Dieser bietet allerdings nur eine ermäßigte Isarcard an. Das wäre aber auch "die einzige Vergünstigung", bemerkt Charlotte Reitsam. Jedoch hat die Einführung des Neun-Euro-Tickets dieses Angebot übertroffen. Daher wäre es wünschenswert, das Ticket wenigstens für Bedürftige fortzusetzen, erklärt der "Tisch füreinander". Das Neun-Euro-Ticket sei "das Beste, was es überhaupt gibt", bekräftigt Sabine Bock vom Katholischen Kreisbildungswerk. Ob es allerdings verlängert werde, müsse abgewartet werden. Trotzdem sollen Bedürftige ausreichend unterstützt werden - auch in Bereichen des öffentlichen Lebens und in Geschäften der Gesundheitspflege. Deswegen beschäftigte sich die Agenda-Gruppe "schon länger mit dem Stadtpass", so Reitsam.

Die Agenda-Gruppe beschäftige sich schon länger mit dem Stadtpass, sagt die Sozialreferentin des Stadtrats, Charlotte Reitsam. (Foto: Marco Einfeldt)

Der "Tisch füreinander" orientiert sich dabei an Erfahrungen und Beispielen anderer Städte. Als Vorreiter auf diesem Gebiet wird die Stadt Regensburg genannt, die in vielen öffentlichen Bereichen Vergünstigungen anbietet. Bedürftige haben dort die Möglichkeit, beispielsweise Chöre oder Museen zu besuchen.

Auch Organisationen in Freising offerieren diese Angebote bereits für bestimmte Gruppen. In der Realität erschwerten allerdings Nachweise, Scham und bürokratische Hürden eine Inanspruchnahme der Hilfen, so die Agenda-Gruppe. Vielen sei es peinlich, etwa in der Schlange vor dem Schwimmbad die Nachweise ihrer Armut offenzulegen. Der Stadtpass, der diskret vorgezeigt werden könnte, würde dies ändern. Für Außenstehende würde er nur wie "irgendein Ausweis" aussehen, erklärte Vivian Rasemann vom Männerfürsorgeverein München. Um die Bezugsberechtigung aufzuzeigen, sollen die Kriterien für den Erwerb gelistet und auf einsichtigen Broschüren gedruckt werden. Der Stadtpass soll nur unter Vorlage eines Personalausweises kostenlos im Bürgerbüro erhältlich sein. Er müsste jedes Jahr aufs Neue beantragt werden.

Die "Freisinger Linke" zeigte sich von der Idee angetan und hatte ihrerseits bereits einen Antrag zur Einführung eines solchen Passes gestellt. Dieser liegt Oberbürgermeister Tobias Eschenbacher (FSM) vor. Das Thema "ist einfach so wichtig", bekräftigt Reitsam. "Das ist nicht nur Thema einer Partei", weiß auch Rasemann. Aus diesem Grund sollen Mitglieder unterschiedlicher Parteien eingeladen werden, um das Papier mitzudiskutieren. Ziel der Agenda-Gruppe ist es, ihren Antrag im November einzureichen. Bis dieser dann allerdings dem Oberbürgermeister vorliegen würde, könnte viel Zeit vergehen: Etwa zwei bis drei Jahre rechnet Reitsam ein, "wenn wir keinen Dampf machen".

Überlastetes Jobcenter, volle Integrationskurse, kaum Notunterkünfte

Auch aktuelle Ereignisse beschäftigen die Agenda-Gruppe: So stellte Andreas Malecki vom Organisationsteam des Helferkreises Freising für Geflüchtete aus der Ukraine die aktuelle Situation vor. Das Bedürfnis nach direkter Hilfe scheint zurückgegangen zu sein. Doch gebe es Probleme auf anderen Ebenen. So sei das Jobcenter überlastet. Die Bearbeitung unterschiedlicher Anträgen nehme viel Zeit in Anspruch. Etwa 700 bis 800 ukrainische Flüchtlinge hätten Anträge auf Finanzhilfen gestellt.

Angesichts dieser Zahl seien die Behörden schlicht überfordert. Problematisch sei auch die Unterbringung der Geflüchteten: Einige private Haushalte könnten die Flüchtlinge aus diversen Gründen nicht mehr beherbergen. Viele Gemeinden äußerten deswegen die Sorge, sie in Notunterkünften unterbringen zu müssen. Diese seien bereits voll. Alternativen gebe es wenig bis keine, beklagt die Agenda-Gruppe. Zwar vernetzten sich die Menschen auf Social Media, doch für diejenigen "die durch das Raster fallen", gebe es faktisch keine Unterkünfte, klagt Malecki.

Es wird die Idee ins Spiel gebracht, eine ukrainische Schule zu eröffnen

Unklar ist zudem, wie die Zukunft für ukrainische Schülerinnen und Schüler aussehen soll. So wurde überlegt, ob es nicht etwa zielführend wäre, eine ukrainische Schule zu eröffnen, falls die Kinder länger in Deutschland bleiben sollten. Auch die Einführung von Headsets, mit denen Unterrichtsstoff live übersetzt werden könnte, wurde besprochen. Im Vergleich zu 2015 sei man zwar besser vorbereitet, so der "Tisch füreinander", jedoch fehle es an geschultem Lehrpersonal, das Kinder mit traumatischen Erlebnissen unterrichten könnte. Lehrkräftemangel zeige sich außerdem an den Volkshochschulen - verschiedene Integrationskurse wären schon lange voll und könnten nicht gebucht werden. Reitsam nennt diese Situation "grausam".

Sorgen bereiten ihr die hohen Heizkosten und die Entwicklung der Nebenkosten: "Wenn ich an nächstes Jahr denke, dann wird mir richtig schlecht." Dann nämlich würde erst die eigentliche Höhe der Zahlungen erkannt werden. Besonders einkommensschwache Menschen würde die Entwicklung der Kosten hart treffen. Für diese Krise müsse man Lösungen finden, so der "Tisch füreinander". Andernfalls sei zu befürchten, dass sich extreme Gruppen die Unzufriedenheit der Leute zu Nutze machten.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: