Einblicke in den Freisinger Apotheken-Alltag:Im Schlafanzug zum Tablettenholen

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Die Erkältungswelle rollt. Im letzten Notdienst in der Freisinger Engel-Apotheke zumindest kamen sehr viele Patienten - vor allem Schnupfensprays und Schmerzmittel waren gefragt. (Foto: Marco Einfeldt)

Während der Notdienste an Sonn- und Feiertagen hat Ingrid Kaiser, Inhaberin der Engel-Apotheke in Lerchenfeld, schon viel Skurriles erlebt. Auch eine Tierarztpraxis sollte sie schon mal ersetzen

Von Thilo Schröder, Freising

Die Ladentür ist verschlossen. Ingrid Kaiser schaut auf, kommt um den Tresen herum und öffnet. Es ist Sonntag, der erste Advent, 11 Uhr am Vormittag. Für die meisten der 35 Apotheken im Landkreis Freising bedeutet das: dienstfrei. Nicht für die Engel-Apotheke in Lerchenfeld. Sie ist eine von vier Apotheken, die bis Montagfrüh den Notdienst übernehmen. Ein Service vergleichbar mit dem des ärztlichen Bereitschaftsdiensts.

Jede Apotheke ist zum Nacht- und Notdienst gesetzlich verpflichtet, unabhängig von der Zahl der Beschäftigten, schreibt die Bayerische Landesapothekerkammer. Nur approbierte Apotheker dürfen ihn übernehmen. Alle zwei Wochen sind Ingrid Kaiser und ihre Kollegin an der Reihe, im Wechsel mit anderen Freisinger Apotheken. Im nördlichen und südlichen Landkreis gibt es drei weitere sogenannte Dienstkreise. Pro Dienstkreis, der jeweils mehrere Gemeinden umfasst, zum Teil landkreisübergreifend, hat eine Apotheke Notdienst. Richtradius für das abzudeckende Gebiet sind 15 Kilometer.

Für Kaiser beginnt der Notdienst schon vor dem eigentlichen Dienst. Basierend auf Erfahrungswerten legt sie einen Vorrat an Medikamenten an. "Ich bestelle die kistenweise im Voraus. Das ist mir ganz wichtig, dass ich da genügend da hab", sagt die 56-Jährige. Derzeit kämen viele Nachfragen für Augentropfen für Kinder, und gerade gehe ein Magen-Darm-Virus um. Darüber hinaus gebe es Vorgaben, welche Medikamente zwingend vorrätig sein müssen: vom Blasenentzündungs- bis zum Durchfallmittel, vom Hustensaft bis zur Halspastille.

Abgeschlossen ist die Tür während des Notdienstes zur Sicherheit des Personals. Jeder Kunde muss klingeln, bevor er den Laden betreten kann. Wenn Kaiser sich unsicher ist, kann sie alternativ durch eine Klappe, etwa so groß wie ein Laptop, mit den Kunden kommunizieren. Die Klappe zu nutzen, liege im Ermessen des Personals, sagt Kaiser. "Manches muss man sich anschauen und die stehen ja sonst auch in der Kälte. Man darf halt keine Angst haben im Notdienst."

Auch wenn sich keine längeren Schlangen bilden, vergehen kaum fünf Minuten, in denen kein Kunde auftaucht. Zwischen einem Viertel und 60 Prozent sind es laut Kaiser im Vergleich mit dem Normalbetrieb an Werktagen. Die Leute kommen mit allen möglichen Anliegen. Ein Mann möchte ein Schmerzmittel, ein anderer ein starkes Antibiotikum. Ein Vater kommt mit seiner kleinen Tochter auf dem Arm, die einen "ansteckenden Ausschlag" hat, wie Kaiser feststellt, sie verweist ihn an einen Arzt. Eine Frau bittet um einen Schwangerschaftstest, ein Vater um ein Läusemittel für seine fünfköpfige Familie.

Ein Mann verlangt die Pille danach. "Bringen Sie die Frau mit, ich muss zuerst mit ihr sprechen", sagt Kaiser zu ihm. "Manche sind panisch und wollen die Pille sofort haben", erklärt sie, als er den Laden verlässt. "Aber ich muss sie erst aufklären, ich trage ja die Verantwortung." Der Mann wird später am Tag zusammen mit seiner Frau wiederkommen.

Parallel klingelt immer wieder das Telefon. Zeit zum Durchschnaufen bleibt kaum. "Hinsetzen ist etwas, was es ganz selten gibt in meinem Beruf", sagt Kaiser. Wenn viel los ist, dürfe sie nicht nervös werden. "Ich muss ja richtige Entscheidungen treffen, auch wenn da einer grantelt. Da muss man Ruhe bewahren." Es gibt zwar eine Schlafcouch im Hinterzimmer. Doch schlafen könne sie nachts kaum, sagt Kaiser. Nur drei bis vier Mal im Jahr gebe es Notdienste, bei denen nach Mitternacht kein Kunde mehr vorbeikommt.

Die Inhaberin der Engel-Apotheke hat bei Notdiensten schon viel erlebt. Kurioses, Lustiges, aber auch Erschütterndes. Wenn den Kunden etwas peinlich sei, holten sie das Produkt lieber bei der Notapotheke als tagsüber in ihrer Stammapotheke. "Zum Beispiel die Anti-Baby-Pille, da kommen die Leute teilweise nachts im Schlafanzug", sagt sie und lacht. "Eine Mutter hat mal angerufen und wollte drei Mal die Pille danach: Sie habe drei Töchter und wolle die Pillen vorbeugend vorm Urlaub kaufen." Ein Mann habe mal um Nadel und Faden gebeten, um sich selbst eine Wunde zu nähen, ein anderer sei mal mit einem Hund gekommen an Weihnachten, weil die Tierarztpraxis geschlossen hatte.

"Eine Frau wollte mal nachts abtreiben", erzählt Kaiser. "Sie sei vergewaltigt worden, ihre Eltern wollten das Kind nicht, sie schon. Eine andere Frau wollte sich mal umbringen. Solche Geschichten erschüttern mich", sagt die Apothekerin. Notdienst habe viel damit zu tun, nachzufragen und zu beruhigen. Notdienst könne aber auch unabhängig davon belastend sein. Manchmal riefen Kunden nachts um drei an und fragten, welches von zwei im Internet bestellten Schmerzmitteln sie denn am besten einnehmen sollten. Andere meldeten sich, um ihr mitzuteilen, sie kämen in einer Stunde persönlich vorbei. Das könne sie dann nicht verstehen, sagt Kaiser.

Nichtsdestotrotz arbeite sie gerne an Sonn- und Feiertagen, sagt Ingrid Kaiser. Obwohl dieses Geschäft trotz eines Preisaufschlags von 2,50 Euro auf manche Medikamente "nicht kostendeckend" sei. "Der Notdienst ist ganz wichtig für die Menschen", betont sie. Auch wenn mancher ungeduldige Notdienstkunde zunächst unfreundlich sei. Was sie dann besonders freue: "Wenn jemand lange wartet, erst grantelt und am Ende rausgeht und sagt: Danke, dass es sie gibt."

© SZ vom 07.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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