Forschung:Fragen und Staunen

Was hat Aristoteles mit Fußball zu tun? Islam mit moderner Medizin? Bei Professor Peter Adamson wird Philosophie lebendig. Sie macht ihn glücklich

Von Martina Scherf

Eine typische Vorlesung fängt bei Peter Adamson so an: "Wir sprechen heute über zweierlei: erstens über die Aristotelische Ethik, und zweitens über Fußball." Gelächter im Hörsaal. Endspiel der Champions League 2018. Sergio Ramos von Real Madrid schaltet Mohamed Salah von Liverpool aus. Ein übles Foul. "Und er bekam nicht mal eine gelbe Karte", sagt Adamson. Da schließen sich gleich mehrere philosophische Fragen an. War es Absicht? Ist das gerecht? Kann ein gütiger Gott so etwas zulassen? Und: Warum handelt einer tugendhaft, der andere böse?

Schon ist man mitten im Philosophieren. Die zwei Jahre alte Vorlesungsreihe ist auf Youtube nachzuhören. Laut Aristoteles, erklärt also Adamson, entstehen Laster und Bosheit nicht durch Intention. Das Böse ist selten geplant. Umgekehrt handelt jemand tugendhaft, weil es seinem Charakter entspricht. Weil er sich gut dabei fühlt. "Ramos hat vermutlich mit seinem boshaften Verhalten zu oft Erfolg gehabt. Es hat seinen Charakter geprägt." Wieder Gelächter. Aristoteles' Ethikbegriff ist nach dieser Einleitung viel leichter zu verstehen.

Die Uni ist seit der Corona-Pandemie weitgehend geschlossen. Peter Adamson, 48, empfängt den Besuch für das Interview zu Hause. Er trägt eine rote Maske und geht voraus in die Wohnküche. Seit März hat er das Haus nur selten verlassen, sagt er, Vorlesungen und Seminare hält er per Zoom. Es sei traurig, Studenten und Doktoranden nicht zu treffen. Manche litten unter der Isolation. "Aber die Situation zwingt uns alle zur Vorsicht." Über die Pandemie und ihre Folgen macht sich der Philosophieprofessor natürlich Gedanken - wie er ja überhaupt ständig über den Zustand der Welt nachdenkt. Doch er wirkt dabei wie ein zufriedener Mensch.

Fragen und Staunen, das sind die Grundlagen der Philosophie - und für Peter Adamson ist das nicht nur Profession, sondern eine offensichtlich beglückende Tätigkeit. Er kocht Kaffee, lässt die Katze in den Garten und erzählt von seiner Forschung, für die er gerade den Schellingpreis der Bayerischen Akademie der Wissenschaften erhalten hat, den höchsten Preis, den das Gremium zu vergeben hat. Der gebürtige Amerikaner ist Professor für spätantike und arabische Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und am King's College in London. Kaum jemand kennt sich in der Philosophie jener Zeit so gut aus wie er.

Philosophieprofessor Peter Adamson

Peter Adamson denkt ständig über die Welt nach. Sein Spezialgebiet ist die Verbindung zwischen abendländischen und islamischen Gelehrten (siehe Abbildung unten).

(Foto: Robert Haas)

In der Spätantike - es geht in etwa um die Zeit zwischen dem vierten und dem neunten Jahrhundert, also zwischen Antike und Mittelalter - lösten sich Mächte, Religionen, Denksysteme auf und formierten sich neu. Das weströmische Reich zerbrach, die Völkerwanderung wirbelte Kulturen durcheinander, das Christentum trat seinen Siegeszug im Abendland an, der Islam im Orient. Aber zwischen den Gelehrten auf beiden Seiten herrschte nicht nur Feindschaft, sondern auch viel Neugier auf die jeweils anderen.

"Mich hat schon immer das Fremde interessiert", sagt Adamson. Literatur zu Platon, Aristoteles oder Kant füllt ja ganze Bibliotheken. Aber zur islamischen Philosophie? Da gibt es wenig. Gerade das reizte Adamson. In Boston aufgewachsen, begann er, alte Sprachen zu lernen, als er am College die Faszination für Philosophie entdeckte. Die Liebe führte ihn nach Regensburg, wo er seine Promotion schrieb, während seine heutige Frau ihr Studium beendete. Er lernte damals Deutsch, Griechisch, Latein und Arabisch, um die alten Handschriften zu studieren. Fünf weitere Sprachen kann er lesen. Vorlesungen hält er in München auf Deutsch, sonst auf Englisch. Sein Deutsch ist von einem sympathisch-bayerisch rollenden R gefärbt.

"In den klassischen Lehrbüchern wird oft so getan, als gebe es nur im Westen Philosophie, im Osten dagegen höchstens Weisheit, Lebenskunst oder Religion - und im globalen Süden gar nichts", sagt der Professor. Ein ziemlich enger, überheblicher Blick. Adamson interessieren aber gerade die Verbindungslinien zwischen den Kulturen. Und die waren bis zum Mittelalter viel enger, als das heute landläufig bekannt ist. Damals, nachdem das Weltreich von Alexander dem Großen zersplitterte, wurden Bücher und Papyrusrollen per Pferd von Rom oder Byzanz nach Bagdad transportiert. Es waren gefährliche Reisen. Trotzdem pflegten Gelehrte in Ost und West einen intensiven Austausch. Und Adamson richtet den Blick nicht nur in diese multikulturelle Vergangenheit. Er baut auch mit seiner bunten Forschergruppe an der LMU Brücken: Dort sitzen 16 Nachwuchswissenschaftler aus zehn Ländern, auch muslimische, "das bereichert unsere Arbeit sehr", sagt der Professor.

Die arabischen Philosophen, über die Adamson forscht, kennt im Westen kaum jemand. Dabei verdankt ihnen die europäische Wissenschaft viel. Al-Kindi, zum Beispiel. Der Philosoph, Mathematiker, Arzt lebte im neunten Jahrhundert in Bagdad. "Er beschäftigte Übersetzer, um Platon, Aristoteles und christlich geprägte Philosophen studieren zu können. Sein Werk wurde wiederum von lateinischen Intellektuellen rezipiert", sagt Adamson. Al-Kindi hatte Rivalen um die Gunst des Kalifen, einmal wurde er ausgepeitscht und seine Bibliothek konfisziert. Doch er behauptete sich. Einen Scheiterhaufen, auf dem Häretiker verbrannt wurden, wie im christlichen Mittelalter, gab es im Islam nicht. "Es herrschte weitgehende Meinungsfreiheit in islamischen Ländern", sagt Adamson.

Forschung: Im Medizinbuch des Gerhard von Cremona findet sich diese Darstellung des persischen Arztes Al-Razi. Er spricht mit einem Patienten und hält eine Urin-Flasche in der Hand. Die westliche Medizin verdankt islamischen Gelehrten viele Erkenntnisse.

Im Medizinbuch des Gerhard von Cremona findet sich diese Darstellung des persischen Arztes Al-Razi. Er spricht mit einem Patienten und hält eine Urin-Flasche in der Hand. Die westliche Medizin verdankt islamischen Gelehrten viele Erkenntnisse.

(Foto: commons.wikimedia.org)

Die Unkenntnis im Westen beim Thema Islam ärgert ihn. "Die Kulturen reichen von Marokko bis Indonesien und sind völlig verschieden." Es zeuge von einer "unglaublichen Ignoranz", wenn ein amerikanischer Präsident behaupte, Al-Qaida würde sich mit Iran gegen die USA verbünden. "Die einen sind Schiiten, die anderen Sunniten. Das gehört doch zur Allgemeinbildung." Aber selbst unter Akademikern sei es mit diesen Kenntnissen oft nicht weit her - trotz der politischen Brisanz.

Gerade sitzt der Professor über der Fertigstellung seines Buches über den persischen Arzt und Philosophen Al-Razi. Der beschrieb Pocken, Masern, die Blinddarmentzündung. Er experimentierte ständig, auch an sich selbst, und nutzte - wie heute üblich - Kontrollgruppen, um die Wirksamkeit von Therapien zu testen. Seine Methode der Leichenkonservierung wurde in Europa bis ins 18. Jahrhundert angewendet. "Mein Gott, ich hab' schon 2008 mit dem Buch begonnen", sagt Adamson jetzt und schlägt amüsiert die Hände vor die Stirn. "Zwölf Jahre." Aber es gibt ja auch noch so viel anderes zu tun. Adamson leitet ein Forschungsprojekt zum Erbe von Avicenna, dem berühmtesten persischen Philosophen. In einem anderen, von der EU geförderten Projekt geht es um die Bedeutung der Tiere in der islamischen Philosophie. "Al-Razi sagt, man soll Tiere gut behandeln, da sie Gottes Schöpfung sind." Tierversuche machte er trotzdem: Er testete die Wirkung von Quecksilber an einem Affen. Und wieder kommen die Übersetzer ins Spiel: Schon Aristoteles schrieb zoologische Werke, die in der islamischen Welt studiert wurden. "Da gibt es noch viel zu entdecken", sagt Adamson.

Und dann ist da noch der Podcast "The History of Philosophy without Any Gaps", Philosophiegeschichte vom Beginn des Denkens bis zur Gegenwart (auf Englisch), "ohne Lücken". Wirklich? Adamson lacht. "Das Projekt hat Dimensionen angenommen, die ich mir anfangs nicht erträumte. Ich dachte, ich setz' mich hin, denke nach und nehme ein Kapitel auf." Dann stellte er - wie einst Sokrates - fest, was er alles nicht weiß. "Jetzt lerne ich die globale Philosophiegeschichte neu, das ist toll." Der Podcast sei sein Hobby, sagt er.

Rund 500 Beiträge wurden in zehn Jahren schon gesendet, 30 Millionen Mal wurden sie heruntergeladen. Jede Woche kommt eine neue Folge heraus. Fünf Bücher sind dazu erschienen, Band 6 und 7 sind in Vorbereitung. Schüler, Studenten, Professoren und philosophiebegeisterte Laien aus Europa und Amerika, aber auch aus Asien und Afrika folgen ihm auf Twitter und steuern Gedanken bei. Co-Autoren hat er auf diese Weise gewonnen, über Kontinente hinweg. Und immer ist eine Prise Humor dabei. Sein Running Gag ist die Giraffe. "Mit ihrem langen Hals schaut sie leicht über den Tellerrand."

In seinen Vorlesungen und in einer eigenen Youtube-Reihe ("Women Thinkers in Middle Ages and Antiquity) stellt Adamson auch Denkerinnen vor. "Es gibt viel mehr Frauen, als man meint." Ein ziemlich neuer Ansatz, zumal für einen Professor der Philosophiegeschichte. Denn die war bisher weitgehend ein Männerverein.

Wenn er nicht am Schreibtisch sitzt, dann spielt Adamson gerne Squash oder geht Laufen - und hört dabei philosophische Podcasts. Nachdenken über die Welt, das rettet sie zwar noch nicht. Aber es hilft - vor allem gegen Verschwörungstheorien. Keine Scheu vor komplizierten Gedanken, lautet seine Devise. Experten vertrauen, vergleichen, sich eine eigene Meinung bilden. "Die Pandemie ist ein Paradebeispiel, wie notwendig das ist." Seine Mutter war Ärztin. Er lässt sich auf jeden Fall impfen, sagt er noch zum Abschied an der Tür, nach gründlicher Prüfung aller Argumente, versteht sich. Die rote Maske sitzt auch nach zwei Stunden noch perfekt.

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