Festival:Platz da!

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Aus der Masse ausscheren ist nicht ganz einfach, macht aber Spaß - das zeigt Ceren Orans in "Schön Anders". (Foto: Tania Bloch)

Das Festival "Think Big!" macht Kunst für die Kleinen ganz groß und erobert mit der Vielfalt des Tanz- und Musiktheaters Bühnen, Straßen und Klassenzimmer

Von Sabine Leucht

Der einzige Stuhl auf der Bühne ist hart umkämpft und bald von einem hübschen Menschenklumpen besiedelt. Und wenn ein Tänzer die Brille schief auf seine Nase setzt, macht ihm das seine Kollegin nach - oder eben gerade nicht. Doch Ausscheren ist schwierig, auch in Ceren Orans "Schön Anders". Wer diesen grandiosen Versuch über die Reibung von Ich und Welt noch nicht gesehen hat, hat im Rahmen des Tanz- und Musiktheaterfestivals "Think Big!" noch zweimal Gelegenheit dazu. Vorausgesetzt, er oder sie hat tagsüber Zeit, denn Orans erstes abstraktes Kinder-Tanzstück ist am 6. und 7. Juli jeweils um 10 Uhr zu sehen. Und auch das nur, weil die Think Big!-Leiterinnen Simone Schulte-Aladag und Andrea Gronemeyer in diesem planungsunsicheren Jahr kurzerhand noch einen Münchner Künstler-Schwerpunkt in ihr Programm gepackt haben, das vom 27. Juni bis 7. Juli im Hoch X, in der Schauburg, im öffentlichen Raum und in Schulen gezeigt wird.

Dort ist Oran auch mit "Fliegende Wörter" vertreten, worin sie gemeinsam mit dem Tänzer Roni Sagi und der Geigerin Gudrun Raber-Plaichinger Begriffe in Klang und Bewegung übersetzt und damit ein schnödes Schulzimmer in einen magischen Ort verwandelt. Genau da setzt auch der Münchner Choreograf Alfredo Zinola mit "Other World" an, einer installativen Klassenzimmerverzauberung, die in enger Kooperation mit Schülern entwickelt werden sollte, was bekanntermaßen zuletzt nicht ganz einfach war. Selbst aktiv werden können die Kids nun trotzdem: Zum Beispiel bei "Klasse Kinder", einer Audiotour der Frankfurter Truppe LIGNA auf den Spuren der Tanzpionierin Jenny Gertz. Und auch Sabine Karbs "Ich war das nicht!" findet in einer Grundschule statt.

Es ist ein großer Spaß, Karb und ihren Mit-Tänzerinnen Lisa Lugo und Barbara Galli-Jescheck dabei zuzusehen, wie sie mit Unschuldsmienen, einer Choreografie von verneinenden und ablenkenden Arm- und Handbewegungen und liebevollem Kissenfleddern die Themen Mut, Ehrlichkeit und Zivilcourage verhandeln und zugleich die Freiheit im Spiel feiern. Und dass man nur dabei sein kann, wenn man Schüler oder Lehrer ist, ist zwar für alle anderen bedauerlich, aber programmatisch für die vor zehn Jahren an den Start gegangene Biennale, die Kunst für die Kleinen erst recht besonders groß denkt.

Die Zielgruppenorientierung ist für den hinter "Think Big!" stehenden Verein Fokus Tanz heuer sogar besonders zentral: "Wenn das Publikum nicht ins Theater kommen kann, kommt das Theater eben zum Publikum" - so hat Simone Schulte-Aladag es vor wenigen Wochen formuliert, als noch ein ganzer Wald von Fragezeichen seinen Schatten auf den Theatersommer warf und nicht mal geklärt war, ob bis Festivalbeginn ein Stadtspaziergang mit künstlerischer Intention wie Simone Lindners an diesem Sonntag um 17 Uhr am Mariahilfplatz startender Stationenwalk "Stadt Tanz Fluss" erlaubt sein würde. Inzwischen hat sich der Wald zwar gelichtet, der site-spezifische und partizipative Programmschwerpunkt "Think Big! Reach Out", in den auch Gelder des Corona-Hilfsprogramms Tanzpakt Reconnect geflossen sind, aber bleibt gesetzt. Außerdem holt Think Big! #8 in seinem Zwischen-den-Jahren-Slot einiges nach, was bei Think Big! #7 2020 coronabedingt ausfallen musste: Neben den internationalen Gastspielen auch die vom zwischen Hamburg, Potsdam und München aufgespannten Netzwerk "explore dance" initiierten Stücke.

Mit Sicherheit ein Highlight: Das vielgereiste Upbeat-Tanz-Konzert "Role Model" (12+) von der Münchnerin Nicole Beutler und dem Utrechter Tanzhaus DOX, das am Mittwoch um 19 Uhr in der Schauburg das Festival offiziell eröffnet. Sechs starke Frauen verwirbeln darin unter Zuhilfenahme von Urban Music, Martial Arts, Voguing und verschiedenen Backgrounds und Persönlichkeiten lustvoll die Kategorien: Maskulin, feminin, tough oder sanft? Alles möglich! Empowert euch! Ebenfalls aus den Niederlanden kommt "Cello Storm" (nomen est omen) von der Compagnie Oorkaan und Celloc8tet Amsterdam für Kinder von fünf Jahren an in der Schauburg. Und auch "10:10" der belgischen Company Nyash schlägt mit Livemusik auf, die im Hoch X ein wildes tänzerisch-akrobatisches Panorama von Hinter- und Schulhofspielen komplettiert. Dort, im Hoch X, ist auch "Libelle" zu sehen, das in München entstandene erste Kinderstück der israelischen Choreografin May Zarhy, die bei ihren Recherchen zu diesem faszinierenden Tier, das älter ist als die Dinosaurier, immer ihren kleinen Neffen im Kopf hatte. Und in "XOXO" (14+), dem zweiten Jugendstück des Programms, beschäftigt sich Sebastian Matthias mit dem so wichtigen, aber noch immer heiklen Thema Nähe.

Verglichen mit den ungleich strafferen Festivalausgaben zuvor ähnelt Think Big! 2021 einem großen bunten Blumenstrauß. Schulte-Aladag umreißt ihr kuratorisches Konzept in diesem besonderen Jahr so: "Alles zeigen, was geht!" - damit endlich die wieder sichtbar werden und zusammenkommen, die während der Pandemie am meisten gelitten haben: Kinder und Künstler.

Think Big! So., 27. Juni bis Mi., 7. Juli, Infos unter www.thinkbigfestival.de

© SZ vom 26.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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