Ermittlungen:Tod durch Insulin

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Die Münchner Staatsanwaltschaft wirft dem Hilfspfleger Grzegorz W. vor, mindestens sechs Menschen getötet zu haben - und es bei mindestens drei weiteren Senioren versucht zu haben. Das Motiv soll Habgier sein und die Unlust, sich um alte Menschen zu kümmern

Von Martin Bernstein

Es ist eine erschreckende Bilanz der Ermittler: Mindestens sechs pflegebedürftige Menschen soll der als "Todespfleger" bekannte Grzegorz W. heimtückisch durch Insulingaben ermordet haben, in sechs weiteren Fällen hat der 36-Jährige Patienten ebenfalls Insulin verabreicht. Die Morde verübte W. nach Überzeugung der Münchner Staatsanwaltschaft aus Habgier, aber auch aus niederen Beweggründen zwischen April 2017 und Februar 2018 - in Burg im schleswig-holsteinischen Landkreis Dithmarschen, in Forchheim, im Kreis Tuttlingen, in Hannover, im unterfränkischen Landkreis Kitzingen und in Ottobrunn bei München.

Außer sechs Morden werden der Pflegehilfskraft drei versuchte Morde und drei Fälle von gefährlicher Körperverletzung vorgeworfen. Dabei starben nach Angaben der Ermittler mindestens zwei weitere alten Menschen, nachdem W. ihnen Insulin verabreicht hatte. Weil aber kein direkter Zusammenhang mehr festzustellen ist und weil W. in drei Fällen selbst den Notarzt rief, wird es voraussichtlich nicht zu weiteren Mordanklagen kommen. W. habe die Insulingaben gestanden, sagte Oberstaatsanwältin Anne Leiding am Dienstag bei einer Pressekonferenz im Polizeipräsidium München. Mit Anklageerhebung ist im Frühjahr zu rechnen.

Dann wird W. sich außerdem wegen mindestens 26 Diebstählen verantworten müssen. Denn er durchsuchte bei seinen meist nur wenige Tage dauernden Betreuungseinsätzen gezielt die Wohnungen der alten Leute nach Wertsachen, aber auch nach Lebensmitteln. W. war nach Auskunft Josef Wimmers, des Leiters der Münchner Mordkommission, schon in seiner Heimat Polen immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten - vor allem wegen Eigentumsdelikten. Nach einer Haftentlassung im Mai 2014 absolvierte W. einen dreimonatigen Pflegekurs in Polen und ließ sich ein Jahr später für 24-Stunden-Betreuungen nach Deutschland vermitteln. 2016 bestahl W. erstmals einen Klienten - im April 2017 griff er dann zum Insulin-Pen. Doch Habgier war offenbar nicht das einzige Motiv.

Denn W. hatte wenig Lust, sich überhaupt um die alten Menschen zu kümmern, die ihm anvertraut waren. Das sollen seine Vernehmungen ergeben haben. Manchmal ärgerte er sich über die Pflegebedürftigen oder ihre Angehörigen, dann störte es ihn, dass er nachts aufstehen musste, ein anderes Mal schmeckte ihm das Essen nicht oder der leidenschaftliche Facebook-Nutzer bemerkte, dass es im Haus kein Wlan gab. Hätte er sich aber einfach aus dem Staub gemacht, wären saftige Vertragsstrafen fällig geworden. Wenn Ausreden nicht verfingen - etwa die von einem angeblich kranken oder plötzlich verstorbenen Angehörigen -, dann gab es für W. offenbar nur eine Lösung: Der alte Mensch musste weg, so oder so.

Seit Januar 2017 musste der übergewichtige W. sich wegen Diabetes selbst Insulin mit einem Pen spritzen. Er hatte also das Werkzeug für seine Mordtaten - und er wusste, welche Folgen eine Insulin-Überdosis hat. Am 12. April verabreichte er nach Erkenntnissen der Ermittler einem 77-Jährigen aus Schleswig-Holstein eine tödliche Dosis, bestahl sein Opfer und verschwand. Weitere elf Anschläge mit dem Insulin-Pen folgten, darunter auch Taten in Mülheim an der Ruhr, bei Esslingen, bei Weilheim-Schongau, in Aresing im Landkreis Neuburg-Schrobenhausen, in Hamburg und im Rems-Murr-Kreis.

Der Mülheimer Fall vom 25. Mai 2017 ist besonders tragisch - denn schon damals hätte die Polizei dem Todespfleger auf die Spur kommen können. Zwei Tage war W. erst im Haus, als seine Pflegeperson, ein demenzkranker 91-Jähriger, mit einer lebensgefährlichen Unterzuckerung in eine Klinik gebracht wurde. Zwei Monate später starb er. Noch während der alte Mann mit dem Tod rang, erstattete seine Tochter Anzeige. Sie war auf der richtigen Spur: W., so vermutete sie, habe ihrem Vater Insulin verabreicht, obwohl dieser kein Diabetiker war. Doch die Ermittler gingen dem Verdacht nur halbherzig nach. W. wurde nicht einmal vernommen. Die zuständige Polizei in Essen räumte im März Fehler ein, drei Beamte wurden suspendiert und zwei weitere versetzt. "Vor dem Hintergrund der schrecklichen Taten beschäftigt mich die Frage, ob weitere Verbrechen hätten verhindert werden können, wenn die Ermittlungsarbeit konsequenter durchgeführt worden wäre", sagte Essens Polizeipräsident Frank Richter damals. "Ich kann diese Frage nicht beantworten."

Erst der Todes eines 87-jährigen Ottobrunners am Rosenmontag brachte dann die Ermittlungen ins Laufen. W. hatte in den frühen Morgenstunden selbst den Pflegenotruf alarmiert, weil er den Rentner leblos in dessen Bett gefunden habe. Bei der Leichenschau entdeckte ein Arzt Auffälligkeiten. W. gestand zunächst einen Diebstahl, dann auch die Insulingabe. Doch die bundesweiten Dimensionen des Falls wurden erst allmählich deutlich.

Im März startete die in München eingerichtete Ermittlungsgruppe "Pen" eine Öffentlichkeitsfahndung, um herauszufinden, wo W. überall tätig gewesen war. 23 bis dato nicht bekannte Beschäftigungen des Pflegers wurde gemeldet. Mindestens 68 alte Menschen hat der aus Jelenia Gora (ehemals Hirschberg) stammende Hilfspfleger in Deutschland betreut, immer wieder im Auftrag anderer Vermittlerfirmen aus Polen und der Slowakei. Auch eine eigene Firma hatte W. angemeldet. Mindestens 22 Mal war W. in Bayern beschäftigt, darunter dreimal in Stadt und Landkreis München, zweimal bei Fürstenfeldbruck.

© SZ vom 14.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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