SZ-Adventskalender:Das bittere Gefühl, als Bettler dazustehen

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Altersarmut ist oft mit Scham verbunden und wird versteckt. Frauen und Alleinerziehende sind besonders betroffen

Von Jan-Hendrik Maier, Erding

"Die Fahrt von Erding nach München zu einem Facharzt stellt für einige bereits eine finanzielle Herausforderung dar", sagt Werner-Malte Hahn. Der Sozialpädagoge vom Diakonischen Werk betreut in der Kirchlichen Allgemeinen Sozialarbeit (KASA) in Erding ältere Menschen, die von Armut gefährdet oder bereits auf staatliche Grundsicherung angewiesen sind. Bei der Unterstützung würden oft schon Kleinigkeiten wie der Kauf einer Tageszeitung helfen, damit Klienten die Wohnungsanzeigen durchblättern könnten, sagt Hahn. Geringe Beträge würden zur Zerreißprobe. "Existenzielle Sorgen sind auch im Alter keine Seltenheit."

Susanne B. (alle Namen geändert) ist ein Beispiel dafür. Ihr Leben veränderte sich nach zwei Verkehrsunfällen gravierend. Aufgrund der gesundheitlichen Folgen ist sie schwerbehindert und musste den Beruf aufgeben. Ihre Bewegungsfreiheit im Alltag ist eingeschränkt, doch davon lässt sie sich nicht entmutigen. "B. versucht unter höchsten körperlichen Schmerzen so viel möglich alleine zu machen", sagt Hahn. Zusammen suchten sie etwa eineinhalb Jahre nach einer behindertengerechten Wohnung im Landkreis Erding. Keine leichte Aufgabe, denn die Rente von Susanne B. liegt unter der Armutsgrenze, sodass sie mit Grundsicherung aufstockt. In diesem Fall übernimmt das Sozialamt die Miete - und entscheidet, wie hoch diese sein darf. Die Suche in der Region blieb erfolglos, da alle Angebote zu teuer waren. Mittlerweile lebt Susanne B. im östlichen Niederbayern. Wenn es ihre Gesundheit eines Tages erfordert, kann sie nach nebenan in eine betreute Wohngruppe wechseln.

Johanna K. ist eine weitere Klientin von Hahn. K. ist pflegebedürftig und lebt in einem Seniorenheim. Etwa 3500 Euro kostet der Aufenthalt im Monat. Obwohl K. stets gearbeitet hat, als Witwe und Mutter mehrere Renten bezieht und Pflegestufe zwei hat, reicht das Geld nicht aus. Mit 79 Euro Taschengeld bleibt ihr weniger als das Gesetz vorsieht (107,73 Euro im Monat). "Trotz gutem Verdienst und lebenslanger Arbeit ist Frau K. auf staatliche Hilfe angewiesen", sagt Hahn. Entscheidend sei jedoch, was mit dem Taschengeld passiert. Allein 73 Euro davon zahlt K. für die Pflegemittel im Heim. Dazu kommen die Kosten für Körperpflege, Haftpflichtversicherung und den eigenen Telefonanschluss, um in Kontakt mit den Verwandten zu bleiben. Überall nutzt sie das günstigste Angebot. "Wenn ihre Angehörigen nicht helfen, kann sie sich nicht einmal einen Kaffee leisten", sagt Hahn. "Eine Teilhabe an gesellschaftlichen und kulturellen Aktivitäten ist ausgeschlossen, denn es bleibt kein Cent übrig."

Für die Betroffenen sei die Armut häufig mit Scham verbunden und werde versteckt. "Die Menschen haben jahrzehntelang gearbeitet und eine Rolle ausgefüllt. Plötzlich haben sie das Gefühl als Bettler dazustehen und ihr Gesicht zu verlieren, weil sie von finanzieller Hilfe abhängig sind", sagt Hahn. Er sieht in der Altersarmut ein strukturelles Problem, das vor allem Frauen und Alleinstehende treffe, die zum Beispiel wegen der Kindererziehung nicht durchgehend beschäftigt waren und geringere Löhne erhielten. Immer mehr Rentner müssten Steuern zahlen, gleichzeitig sinke das durchschnittliche Rentenniveau. Jeder laufe Gefahr, eines Tages die Armutsgrenze zu erreichen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts liegt diese für Singles bei einem monatlichen Nettoverdienst von 987 Euro. "Von Grundsicherung zu leben heißt, sich bis auf das letzte Hemd auszuziehen", sagt der Sozialpädagoge. Der Adventskalender der Süddeutschen Zeitung will wie in jedem Jahr mit Spenden denen helfen, die in Not geraten sind.

© SZ vom 05.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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