Markt Schwaben:Festhalten, was passiert ist

Lesezeit: 1 min

Sophia Weikel hat ihre Facharbeit über einen Todeszughäftling geschrieben

Von Gianna Niewel, Markt Schwaben

Am Anfang war der Wunsch, eben nicht zu vergessen. Kein Detail von dem, was dieser Mann ihr gesagt hat. Gabriel Meltzer, Häftlingsnummer 88166, wurde 1927 in der damals tschechischen Stadt Uzhgorod geboren. Er war einer der Häftlinge des Todeszugs und hat den Holocaust überlebt. Auf der Flucht vom Bahnhof in Poing fand er Unterschlupf in dem Haus, in dem auch die Großmutter von Sophia Weikel gewohnt hat. Nach dem Krieg wanderte er nach Amerika aus. 2008 kehrte er zum ersten Mal wieder nach Markt Schwaben zurück. Sophia Weikel traf ihn - und schrieb seine Geschichte in einer Facharbeit auf.

Weikel ist 25 Jahre alt, am Franz-Marc-Gymnasium hat sie Abitur gemacht. Dort engagierte sie sich auch im Arbeitskreis Politik und Zeitgeschichte. "Irgendwann fing ich an, meine Oma zu befragen, was sie erlebt hat." Von selbst habe die Großmutter das Thema gemieden, wie so viele in ihrer Generation. Stückwerk seien die Fragen gewesen. Dann kam Gabriel Meltzer. Unangekündigt stand er plötzlich im Garten. Er wollte aufarbeiten - und deshalb auch Sophia Weikels Großmutter treffen, die ihm bis zur Ausreise in die USA geholfen hatte.

Die Facharbeit, das sind mehr als zwanzig Seiten angereichert mit Bildern in schwarz-weiß, Fotos von Meltzer in Mühldorf, Bleistiftzeichnungen von Erdhütten in Waldlagern. Meltzer erinnert, wie er Kohle gegessen hat, um den Durchfall zu stoppen. Wie er bis zur Ohnmacht gepeitscht wurde, weil er Kartoffeln geklaut hatte. Wie sich Mithäftlinge erhängt haben, weil sie das Leid nicht mehr schultern konnten. "Meine Generation ist die erste, die nicht direkt mit diesen Geschehnissen verstrickt ist", sagt Weikel. Dass immer mehr Deutsche mit der NS-Vergangenheit abschließen wollen? Unverständnis. Gabriel Meltzer ist in ihrem Heimatort geflohen und verfolgt worden. Er ist im Haus der Oma untergekommen. "Ich will wissen, was ihm hier passiert ist", sagt sie. "Das betrifft mich." Es sei die Aufgabe ihrer Generation, das Wissen der Überlebenden zu konservieren. Überhaupt sei es an den heute jungen Erwachsenen, Verantwortung zu übernehmen. Weikel studiert Sprachheilpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seit einigen Wochen kümmert sie sich um einen gambischen Flüchtling.

© SZ vom 25.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: