Holocaust:"Ich muss über diese Erfahrung reden"

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Auf seiner Visitenkarte steht: "Leslie Schwartz - Holocaust-Überlebender". Der 85-Jährige hat in den vergangenen vier Jahren mehr als 150 Schulen besucht, um Jugendlichen zu berichten, was er erlebt hat. Im SZ-Interview spricht er darüber, was ihn antreibt: "Es ist schon einmal passiert - wieso nicht wieder?"

interview Von Gianna Niewel

SZ: Sie sprechen vor Mittelschülern in Dorfen und vor Studenten in Boston. Wieso geben Sie so selten Veranstaltungen für Erwachsene?

Leslie Schwartz: Viele Leute sagen mir, ich solle meine Geschichte lieber den Älteren erzählen. Was soll das? Die waren vielleicht selbst Nazis. Da kann ich nichts mehr bewirken. Die Schüler nehmen mich ernst, die interessieren sich.

Haben Sie schlechte Erfahrung mit Erwachsenen gemacht?

Ja. Die reagieren mit einem Achselzucken. Sie sagen, sie kennen die Geschichte. Im besten Fall. Im vergangenen Jahr war ich in Dachau. Dort habe ich einen Mann getroffen, er war 90 Jahre alt. Er hat zu mir gesagt: "Wenn Sie noch am Leben sind, haben wir einen schlechten Job gemacht." Der Mann war damals bei der Waffen-SS. Ich wollte mit ihm essen gehen, aber er hat abgelehnt.

Sie sind einer der wenigen noch lebenden Zeitzeuge. Was bedeutet das für Sie?

Ich habe die Hölle durchgestanden, ich muss über diese Erfahrung reden. Das ist wichtig. Natürlich erschöpft es. Aber Überlebender zu sein, das ist eben auch verbunden mit dieser Pflicht. Irgendwann wird das enden, wir Zeitzeugen werden sterben. Die Frage ist, was wir bis dahin bewirkt haben. Natürlich gibt es Bücher, das ist das eine. Aber jemandem zuzuhören, der die Schreie der Sterbenden gehört hat, das ist etwas ganz anderes.

Gab es nach dem Krieg eine Zeit, in der Sie Ihre Erinnerungen verdrängt haben?

Wenn man ein Teenager ist, wendet sich das Leben jeden Tag. Ich liebte beispielsweise die Hershy Schokolade. An einem Nachmittag habe ich 18 Täfelchen gegessen. Ich war wie ausgehungert nach Süßigkeiten. Man macht natürlich erst einmal dicht. Es kommt einem gelegen, dass man abgelenkt wird. Ich hatte mit der Schule zu tun, ich hab' den Mädchen nachgejagt, ich wollte daten. Das ist normal.

Auch für Sie?

Schon. Als ich nach Brooklyn auf die High School kam, habe ich natürlich einigen Freunden von der Zeit im KZ erzählt. Sie haben mir nicht geglaubt. Sie haben gesagt, ich sei zu jung dafür. Irgendwann habe ich es nicht mehr versucht. Als ich 16 Jahre alt war, habe ich ein Mädchen getroffen, sie war schön, ich mochte sie. Sie mochte meinen Namen nicht. "László, was soll das heißen?" Sie meinte, ich sei nun in den USA und deshalb sollte ich mich Leslie nennen. Ich wollte ankommen, das war mein Ziel. Seitdem rufen mich alle Leslie.

Hat die Namensänderung das Abschließen erleichtert?

Es hat geholfen.

Wann haben Sie wieder angefangen, sich bewusst zu erinnern?

Eigentlich erst in den vergangenen vier Jahren. Für mich ist es wichtig, die Leute wieder zu treffen, mit denen ich im KZ war. Es ist ein gutes Gefühl, zu zeigen, dass wir leben. Ich bin hier, schaut mich an - I made it. Das macht unglaublich stark. Bis vor kurzem hatte ich das Gefühl, nichts könne mich zerstören. Als sei ich ein Stück Eisen. Natürlich spüre ich mittlerweile das Alter.

"Man vergisst auch Details nicht": Leslie Schwartz sprach am vergangenen Dienstag am Markt Schwabener Franz-Marc-Gymnasium über seine Erinnerungen. (Foto: Christian Endt)

2010 ist Ihre Biografie auf Deutsch erschienen. Max Mannheimer hat Sie ermuntert, zu schreiben. Hatten Sie eigentlich Angst, Details zu vergessen?

Man vergisst auch Details nicht. Ein Beispiel: Die ungarischen Gendarmen kamen im April 1944 und befahlen meiner Mutter, sie solle alles Wertvolle auf den Küchentisch räumen. Sie hat alles hervorgekramt, ihre Ketten, ihre Ringe, ihr Geld. Das nahmen sie. Wir durften einpacken, was in einen kleinen Rucksack passt - mehr nicht. Ich hatte als Junge einen Schäferhund, er hieß Pajtás. Das bedeutet "Freund". Ich liebte ihn. Als wir gegangen sind und er in der Wohnung kauerte, wusste dieser Hund, dass etwas nicht stimmt. Er hat uns einfach angestarrt, wie wir da standen mit dem Rucksack und gegangen sind. Den leeren Blick, den vergesse ich nie.

Wieso sind Sie zurück nach Deutschland gekommen?

Ich wollte Frau Riesch besuchen, sie hat mir damals Brot durch den Zaun gesteckt, als ich im Lager in Mühldorf war, ab und an auch ein paar Pfennig. Und ich wollte Frau Huber in Poing finden. Sie hat mir ein Glas Milch eingeschenkt und ein Butterbrot geschmiert, als ich aus dem Todeszug geflohen bin. Ich wollte mich bedanken.

Was war das für ein Gefühl?

Es war komisch. Als ich in den 1970er Jahren herkam, haben diejenigen, die uns töten wollten, ja noch gelebt. Mir war oft nicht wohl. Einmal war ich in einer Kneipe, die Männer am Tresen hatten getrunken und fluchten harsch. Ich wusste nicht, was sie sagten und ob es überhaupt um mich ging. Aber für mich haben sie das Böse repräsentiert mit ihrer Wut.

Alle Deutschen?

Wenn man jung ist, neigt man dazu, zu verallgemeinern.

Hatten Sie Verwandte, als Sie 1946 mit dem Schiff nach Amerika ausgereist sind?

Ich hatte fünf Cousins und Cousinen in Los Angeles und einen Onkel, bei denen habe ich gelebt.

Sie sind nicht lange geblieben.

Ich kam im Juli an. Ein Freund von mir ist im August nach New York nachgereist. Ich kannte ihn von zu Hause, er war wie ein großer Bruder. Ich weiß noch genau, dass ich geduscht habe, da klopfte mein Onkel und sagte, ich hätte einen Brief von ihm. Er hatte also überlebt - und war auch in den Staaten. Ich habe meinem Onkel gesagt, dass ich zurück nach New York gehen werde.

Einfach so?

Das war für mich selbstverständlich. Ich habe auch meine Tante in der Bronx nicht gefragt, ob es ihr was ausmacht, wenn ich bei ihr unterkomme. Als Jugendlicher war ich überzeugt davon, dass mir jeder genau das schuldig ist, was mein Herz begehrt. Ein paar Wochen später bin ich nach New York gezogen.

Dort haben Sie die High School besucht. Wie ging es weiter?

Ich habe zunächst für eine Versicherung gearbeitet. Nach 20 Jahren im Dienst, 1972, übernahm ich die Druckerei. Optima Press. Wir haben gute Arbeit gemacht, das war kein Copy-Shop.

1970 haben Sie Ihre Frau getroffen. Sie waren zu dem Zeitpunkt Manager der Druckerei, sie hat in der Computerabteilung der Firma gearbeitet. Ihre Frau ist in Münster geboren.

Sie wusste um meine Vergangenheit. Bei einem unserer ersten Treffen sagte sie: "Was willst du von mir, ich bin Deutsche?"

Was haben Sie geantwortet?

Nichts. Wir waren ja beide in den Staaten. Und sie war zu jung, um Verantwortung zu tragen.

"Als Überlebender fühle ich mich verpflichtet, Zeugnis abzulegen", schreibt Schwartz in seiner Biografie. (Foto: oh)

Sie haben aus erster Ehe einen Sohn, Garry. Wie haben Sie mit ihm über Ihre Vergangenheit geredet?

Nicht viel. Ich wollte ihn nicht belasten.

Hat Ihr Sohn Sie nie gefragt?

Er kennt meine Geschichte, er hat sie mitbekommen. Aber ich habe wenig mit ihm darüber gesprochen. Ich denke, wenige Holocaust-Überlebende wollen ihren nächsten Verwandten ihre Erinnerungen aufbürden. Aber es stimmt schon, in den vergangenen Jahren ist es einfacher geworden, mit ihm zu reden. Die Zeit heilt.

Sie haben in den vergangenen vier Jahren mehr als 150 Schulen besucht. In den nächsten Wochen werden Sie in Mainz sein, in Frankfurt und Darmstadt. Was erhoffen Sie sich von diesen Touren?

Die Aufklärung soll verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt. Es ist schon einmal passiert - wieso nicht wieder? Da müssen wir gegensteuern. Die deutschen Juden, die im Ersten Weltkrieg gekämpft haben, das waren dekorierte Helden. Die waren doch damals deutscher als viele Deutsche. Die dachten sicher auch nicht, dass sie selbst einige Jahre später Zielscheibe sein würden.

Haben Sie eigentlich ein Konzept, wenn Sie zu Schülern sprechen?

Meist ergibt sich das Gespräch. Kinder sind unverkrampft, sie stellen ihre Fragen und sie respektieren mich. Einmal hat ein Junge gesagt, er hätte mich gern als seinen Opa. Ich brauche diese Akzeptanz.

Fühlen Sie sich manchmal allein?

Nein. Ich kann gut Kontakt zu knüpfen. Auch zu Menschen, die mir fremd sind.

Für was interessieren sich die Jugendlichen denn?

Wie ich das als Kind überleben konnte. Was ich gearbeitet habe und ob das schwer war.

Was denken Sie über die Jugend heute?

Sie sind furchtbar verwöhnt.

Sie leben einige Monate im Jahr in den USA, einige in Münster. Waren Sie auch einmal in Ungarn?

Ja, zwei Mal. Das letzte Mal 1993 mit meiner Frau. Sie wollte sehen, wo ich herkomme.

Was war das für ein Gefühl?

Ein dumpfes. Ich habe emotional kaum reagiert. Ich weiß, dass ich wieder weg wollte. Ich wollte zurück nach Deutschland.

Deutschland als Zuflucht - ist das nicht merkwürdig?

Die Ungarn waren schlimmer als die Deutschen. Als wir 1944 in den Bahnhof in Kisvárda laufen mussten, um nach Auschwitz deportiert zu werden, haben uns ungarische Soldaten in die Wagen geprügelt. Das war unnötig. Sie wollten den Deutschen zeigen, dass sie den Job besser machen können. Ich habe sie dafür gehasst.

Glauben Sie eigentlich?

Es muss einen Grund dafür geben, dass ich noch lebe. Gott will, dass ich tue, was ich tue. Aber es ist ein gemischtes Gefühl. Natürlich fragt man sich, was gerecht ist.

Wo sind Sie zu Hause?

Wissen Sie, man ist mal hier, mal da. Es gibt Orte, an denen ich zu tun habe. Dort fühle ich mich wohl. Das ist wichtig.

© SZ vom 25.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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