Schule:Pubertät oder schon Depression?

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Alexander Geist arbeitet seit über 30 Jahren als Schulpsychologe. Am Anne-Frank-Gymnasium in Erding ist er seit 1998. (Foto: Stephan Görlich)

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten nimmt zu. Seit Kurzem gibt es eine eigene Internetseite für Lehrkräfte mit umfassenden Informationen zum Thema Depression. Der Erdinger Schulpsychologe Alexander Geist begrüßt das Angebot.

Von Regina Bluhme, Erding

Ein Jugendlicher zieht sich im Unterricht immer mehr zurück, eine Schülerin weint vor jeder Schulaufgabe. Typisch Pubertät oder ein Anzeichen für ein ernsthaftes Problem? Diese Frage stellen sich viele Lehrkräfte. Am Erdinger Anne-Frank-Gymnasium (AFG) steht den Kollegen und Kolleginnen seit 25 Jahren Schulpsychologe Alexander Geist zur Seite. Hilfestellung gibt seit Kurzem auch die Internetseite "ich bin alles@schule". Das Portal bietet wissenschaftlich fundierte Informationen zur Depression und psychischen Gesundheit von Schülern und Schülerinnen. Das Angebot sei eine gute Unterstützung, sagt Alexander Geist, gerade angesichts der rückläufigen Zahl an Schulpsychologen und den steigenden Zahlen an psychischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen.

"Corona war die Zäsur", erklärt Alexander Geist. Seit über 30 Jahren ist er als Schulpsychologe tätig. Am Anne-Frank-Gymnasium hat er viele Jahre Deutsch, Ethik und Psychologie unterrichtet, die vergangenen Jahre über war er dort vor allem als Schulpsychologe im Einsatz. Außerdem ist er Regionalbeauftragter für Lehrergesundheit, Supervision und Coaching für den Schulberatungsbezirk Oberbayern-Ost.

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Schon vor der Pandemie habe es belastete Kinder und Jugendliche gegeben, doch dann im Lockdown und Homeschooling, "ohne Sozialkontakte, ohne die Möglichkeit sich auszuprobieren", da habe sich vieles verschlimmert. Studien sprechen von einer Zunahme von psychischen Auffälligkeiten um über 20 Prozent. Einige Bereiche seien inzwischen wieder auf Vor-Corona-Niveau. "Aber auffällig ist, dass die Prüfungsangst so gestiegen ist", sagt der Erdinger Schulpsychologe. Vor Schulaufgaben beginnen betroffene Kinder zu zittern, zu weinen, sie haben klatschnasse Hände und kalkweiße Gesichter. Die Zahl der Absenzen an den Schulen sei deutlich gestiegen. Mittlerweile gebe es keine Schulaufgabe mehr, bei der nicht zwei oder drei Kinder fehlten. Im Grunde müsse die Lehrkraft immer zwei Proben vorbereiten.

Ebenfalls stark gewachsen seien soziale Angststörungen, lautet die Erfahrung von Alexander Geist. Für viele sei es ein Ding der Unmöglichkeit, vor anderen zu reden oder gar ein Referat zu halten, die Furcht, sich zu blamieren sei zu groß. Jedes Vermeiden steigere die Angst. Dabei unternähmen die Schulen alles, was im Rahmen des Schulrechts möglich ist, um die Kinder und Jugendlichen zu halten. Am AFG zum Beispiel sei dies durch zeitweilige Notenaussetzung oder Versetzung auf Probe gelungen.

Ist es eine normale Stimmungsschwankung oder eine beginnende Störung?

Aber wie soll eine Lehrkraft erkennen, ob es sich um eine pubertäre Stimmungsschwankung oder doch um eine beginnende Störung handelt? Erster Ansprechpartner sei immer der Schulpsychologe, die Schulpsychologin, betont Alexander Geist. Am AFG gebe es zum Glück schon eine jahrzehntelange Tradition in der Beratung und inzwischen eine weitere Schulpsychologin und eine Schulsozialarbeiterin. Aber auch das Infoportal "ich bin alles@schule" könne grundsätzlich gut unterstützen. Die Internetseite wurde von der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des LMU Klinikums München gemeinsam mit der Beisheim Stiftung entwickelt und ging heuer am 7. November online.

Die Plattform ist in mehrere Bereiche unterteilt. Dort sind etwa grundsätzliche Informationen über Symptome, Ursachen und Verlauf einer Depression oder Angststörung bei Jugendlichen aufgelistet. Es gibt praxisorientierte Anmerkungen, wie die Lehrkraft betroffene Schüler und Schülerinnen ansprechen kann, wie ein Gespräch mit Eltern geführt oder wie das Thema im Klassenverband behandelt werden sollte. Darüberhinaus ist aufgeführt, wie die psychische Gesundheit der Schüler und Schülerinnen gefördert werden kann oder wie Erkrankte gestärkt und unterstützt werden können. Zudem gibt es Informationen über Facheinrichtungen und Therapiepraxen.

Es gebe eine große Offenheit unter den Kollegen, sich unterstützen zu lassen

Bei älteren wie jüngeren Kollegen und Kolleginnen stelle er eine große Offenheit fest, sich in diesen Fragen unterstützen zu lassen, erklärt Alexander Geist. Sie bemühten sich alle sehr um die Kinder und Jugendlichen, "gerade auch unsere Chefin ist da sehr engagiert", sagt er über Schulleiterin Regine Hofmann. Je eher reagiert werden könne, umso besser. Manchmal helfe "ein kleiner Baustein", ein Wechsel beim Sitzplatz oder das Tragen eines Kopfhörers während der Schulaufgabe. Immer wieder stelle sich heraus, wie wichtig es sei, dass Kinder und Jugendliche lernen, sich selbst akzeptieren, ihre Stärken erkennen, auch ihre Interessen, "um tragfähige Lebenspläne und Ziele zu entwickeln".

Die Faktoren, die von außen auf Schüler und Schülerinnen einprasseln, seien nicht zu beeinflussen. Corona, dann der Ukraine-Krieg, die Klimakrise. Das nähre Ängste. Manchmal litten Jugendliche unter Existenzängsten. "Das hatten wir vor fünf Jahren noch nicht", so Alexander Geist. Dabei wolle er nicht sagen, dass früher alles besser gewesen sei. "Aber die Welt ist auf jeden Fall komplexer geworden." Auch durch den Informationsfluss durchs Handy.

Es gibt immer weniger Schulpsychologen. "Das reicht hinten und vorn nicht."

Leider gebe es im Landkreis, wie in ganz Bayern, viel zu wenig Therapieplätze, bedauert Alexander Geist. Bei den Schulpsychologen gehen die Zahlen seit Jahren stark nach unten. Im Gymnasialbereich in Bayern waren es laut Geist einmal drei Seminarschulen mit jeweils zwölf bis 15 Referendaren. Jetzt sind es noch zwei Seminarschulen mit je drei Teilnehmenden. "Das reicht hinten und vorn nicht."

Wenn er höre, dass die Staatsregierung die Kompetenzen der Schulen stärken wolle, dann würde er sich sehr wünschen, dass es nicht immer um die Digitalisierung gehe, betont Alexander Geist zum Schluss. "Wir brauchen ganz dringend Kompetenzen in der psychologischen und therapeutischen Versorgung."

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