Es ist kurz vor zwei, da lässt sich der junge Mann rückwärts vom Dach fallen - mitten ins Sprungtuch, das die Feuerwehr bereitgestellt hat. Schnell zeigt sich, dass der 20-Jährige unverletzt ist, Erleichterung macht sich breit. Der Asylbewerber aus Sierra Leone, der eigentlich in Poing lebt, war am Montagmorgen auf das Dach der Containerunterkunft am Grafinger Gymnasium geklettert, um Solidarität mit den dort lebenden Flüchtlingen zu zeigen. Die 32 jungen Männer sollten an diesem Tag gegen ihren Willen in die Plieninger Traglufthalle umziehen, viele sind seit mehr als einem Jahr in Grafing und haben sich gut eingelebt. Nach mehreren Stunden können Polizei, Feuerwehr und Sondereinsatzkräfte zwar abrücken - aber wie die Geschichte ausgehen wird, lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen.
Denn ausgezogen sind an jenem Morgen nur zehn Bewohner freiwillig, die übrigen wollen sich gegen den Umzug wehren. Vor allem die jungen Männer aus dem Senegal wollten sich nicht überzeugen lassen, dass die Weigerung nichts bringe, erzählt Birgitta Klaiber vom Helferkreis: "Sie haben ja nichts zu verlieren, sie wissen, dass sie sowieso abgeschoben werden." In Grafing fühlen sich die Flüchtlinge, die meist schon in mehreren anderen Unterkünften gelebt hatten, nach eigenem Bekunden sehr wohl. Noch am Vorabend des angekündigten Umzugs wird in der Unterkunft ein Fest gefeiert, ein Bewohner hat geheiratet. Es ist viel Alkohol im Spiel, auch der junge Besucher aus Poing feiert mit. Er hatte vor einigen Monaten auch in Grafing gelebt und Freunde in der Unterkunft. Die Helfer kennen ihn, er sei emotional und neige zu Überreaktionen, sagen sie. Auch in psychologischer Behandlung soll er gewesen sein. An diesem Morgen will er, wie er sagt, ein Zeichen gegen den unerwünschten Umzug seiner Freunde nach Pliening setzen. Auf dem Containerdach in sechs Metern Höhe droht er zu springen. Auch ein Messer hat er dabei; laut Zeugen soll er gerufen haben, er würde sich damit umbringen, sollte man ihn mit Gewalt vom Dach holen wollen. Ein Polizeipsychologe und der Feuerwehrseelsorger versuchen den jungen Mann davon zu überzeugen, freiwillig aufzugeben. Immerhin, so erzählen Zeugen, wirft der 20-Jährige irgendwann das Messer vom Dach. Doch offenbar sehen die Verantwortlichen letztlich keine Möglichkeit mehr, die Situation durch Verhandlungen aufzulösen: Sondereinsatzkräfte steigen zu dem Mann aufs Dach - er springt. Dann wird er vom Rettungsdienst in eine Klinik gebracht.
Doch die Anspannung will nur langsam weichen. Bürgermeisterin Angelika Obermayr, die zwei Stunden besorgt die Bemühungen um eine Deeskalation verfolgt hat, packt ihre Tasche, sie ist schon zu spät dran für eine Besprechung, in der es darum gehen soll, wie man zumindest fünf oder sechs anerkannten Eritreern in Grafing eine Perspektive bieten kann. Lilli Kajnath vom Helferkreis kommt dazu, sie ist völlig erschöpft. Die ganze Zeit war sie an der Containerunterkunft und hat versucht zu vermitteln, jetzt holt sie kurz Luft und verfrachtet dann einige ihrer Schützlinge zu einer Besprechung ins Pfarrheim.
Wie das Landratsamt vorgehen wird, kann Andreas Stephan, Leiter der Abteilung Zentrales, zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. "Diejenigen, die jetzt noch hier sind, sind illegal hier. Sie werden hier nicht bleiben können", sagt er. Die jungen Männer müssten damit rechnen, dass sie einzeln in verschiedene Unterkünfte verlegt würden, wenn sie ihren Widerstand nicht aufgäben. "Es ist keiner verletzt, das ist die Hauptsache", sagt Sozialpädagoge Kristian Donner. Das Angebot des Landratsamts steht noch, dass diejenigen, die wollen, auch jetzt noch umziehen können. Bis zum späten Nachmittag haben es vier Bewohner angenommen.
Die Schüler des Gymnasiums waren laut Behörden zu keinem Zeitpunkt in Gefahr. Der Langbau wurde gegen Mittag geräumt, ein Teil der Schüler früher heimgeschickt. Im Hochbau war das nicht möglich: Der erste Teil der mündlichen Abiturprüfung stand an.