Ein Tag bei Ikea:Die Vertreibung aus dem Kinderparadies

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Samstags im schwedischen Möbelhaus: Dort warten billiges Essen, Möbel-Berge und gestresste Kunden. Des einen Freud, des anderen Leid.

M. Ruhland

Die Szene hat etwas Komisches. Der große, hagere Mann ist halb in den Kofferraum gebeugt, wieder und wieder hebt er ein Bein, um mehr Druck auf die Arme zu bekommen. Er schiebt und ruckelt, doch das oberste Regalpaket rührt sich nicht.

Am Beifahrersitz müht sich sein Kompagnon, er ist kleiner und korpulent. Der überladene Kleinwagen bekommt eine bedrohliche Seitenlage. Es ist ein Ziehen und Zerren, begleitet von Flüchen und Verwünschungen. Gäbe es eine versteckte Kamera, die beiden würden es wohl sofort in eine der Reality-Shows schaffen.

Für drei Euro wird das Auto beladen

Vermutlich würden sie dann sogar über sich selbst lachen können. Doch momentan herrscht dicke Luft. Die Parkgarage leert sich, draußen wird es allmählich dunkel, es reicht jetzt. Sie wollen weg, weg von Ikea-Brunnthal. Und zwar mit allen Einkäufen.

Man darf annehmen: Es waren Anfänger. Ikea-Anfänger. Der Profi würde ihnen zurufen: "Brauchst du Hilfe beim Beladen? Für nur drei Euro werden deine Pakete ins Auto geladen." Natürlich kannst du auch alles nach Hause geliefert bekommen, kannst dir helfen lassen bei der Möbelmontage, dir die Wohnung vermessen lassen. Willkommen in deiner Ikea-Family!

Nur, will man das auch? Sich ständig duzen lassen in einer Familie, in der man weder Mutter noch Vater kennt? Offenbar schon. Zumindest funktioniert das Prinzip Ikea im wirtschaftlichen Sinne aufs Trefflichste. Im Geschäftsjahr 2009 eröffnete der Ikea-Konzern 15 neue Einrichtungshäuser.

Insgesamt gibt es weltweit schon mehr als 280, gut 590 Millionen Menschen kauften im vergangenen Jahr bei Ikea ein, und es werden ständig mehr. In den letzten zehn Jahren verdreifachte Ikea den Umsatz auf 21,5 Milliarden Euro. Deutschland steht mit 16 Prozent an der Spitze der umsatzstärksten Länder, weit vor den USA (elf Prozent) und Frankreich (zehn Prozent).

Gehöriges Maß an Frustrationstoleranz

Und München? Als Ikea neben Eching, 1974 als erste deutsche Ikea-Filiale eröffnet, im Jahr 2003 seinen zweiten Markt vor den Toren Münchens am Autobahnkreuz München-Brunnthal eröffnete, glaubten Optimisten, man könne vielleicht sogar am Wochenende mit mehr Muße einkaufen.

Von wegen. Wer an einem Samstag zu Ikea fährt, braucht entweder ein gehöriges Maß an Frustrationstoleranz oder ist ein ausgeprägtes Herdentier. Es scheint, als zöge halb München im Monatsturnus um.

Denn am Hot Dog für einen Euro allein kann es ja wohl nicht liegen, dass sich eine nicht abreißende Kolonne mit Einkaufswagen durch Hallen voller Wohnaccessoires schiebt, so dass selbst Hartgesottene nicht vor klaustrophobischen Anfällen gefeit sind.

Oder etwa doch? Die Schlange vor dem Würstchenstand ist noch länger als vor den Kassen. Ganze Großfamilien stehen schmatzend, jeder meist eine Hand unter die vor lauter Gurken- und Zwiebelbeigaben tropfenden Hot-Dog-Semmeln haltend, mitten im Chaos aus überquellenden Wagen, werden gerammt von ungeschickt mit ihren Schubgeräten manövrierenden Nichtessern, was zwangsweise zu regelrechten Clustern glitschiger Mischungen auf dem Fliesenboden führen muss.

Ein Pärchen streitet darüber, wo das Auto geparkt ist, ein anderes diskutiert, ob es besser mit dem Aufzug (vor dem eine weitere Schlange wartet) fährt oder sich trotz der überstehenden Regale auf die rollende Rampe wagen soll; ein pubertierender Sohn beschwert sich lautstark bei seinen Eltern, warum er das Koldby Kuhfell nicht bekommen hat.

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Bei Ikea findet man immer etwas

Es herrscht ein Lärmpegel, den vermutlich selbst die zwei Startbahnen am Münchner Flughafen bei Osterreiseverkehr nicht erreichen, und der nur noch vom Smaland (Ikeas Kinderwelt) übertroffen wird. An Samstagen warten Familien schon früh vor den Türen Ikeas, denn als erstes öffnet um 9.30 Uhr das Restaurant zum - natürlich billigen - Frühstück.

Und es gibt Ikea-Freunde, die im Internet schauen, wann mal wieder im Schwedenshop ein Kombiangebot Gravad Lax oder Köttbullar zu haben ist. Natürlich geht es auch um das Wohnen, um Billy-Regale, Bambus-Körbe und Bettbezüge. Und darum, dass man bei Ikea eigentlich immer was findet. Wenn auch oft nicht das, was man gesucht hat.

Oliver Sallet, 29, und Simon Book, 24, zum Beispiel suchen einen großen Küchentisch für ihre Zweier-WG. "Wir halten gerne Hof", sagt Oliver. Gefunden haben sie bisher eine Pinnwand. Ihr Verhältnis zu Ikea ist durchaus gespalten, eine "Hassliebe" nennt Oliver es.

"Wir haben gerade über das Duz-Prinzip abgelästert. Und dann stimmt oft nicht mal die Rechtschreibung", mokiert sich Simon. Eigentlich, sagt Oliver, wolle man einzigartige Sachen kaufen und merke gar nicht, "dass alle drumherum das Gleiche haben". Warum er doch immer wieder herkommt? "Es ist sicherlich eine Frage des Geldes. Und man bekommt eben alles - von der Tupperbox bis zur Schlafcouch."

Ein Grund, der auch Lisa Triltsch zu Ikea nach Brunnthal gelockt hat. Die 22-Jährige zieht gerade nach München, um hier Zahnmedizin zu studieren. Die erste eigene Wohnung. Mit dabei ist Vanessa, 21, ihre Freundin. Sie studiert in Stuttgart Architektur und berät Lisa.

Im Augenblick stehen sie in der Lampenabteilung. "Eine Wohnung, die komplett von Ikea eingerichtet ist, würde ich nicht wollen", sagt Vanessa. Zu uniform. Lisa stimmt zu. Sie sucht hier "ein paar witzige Sachen als Ergänzung". Alte Möbel hat sie von zuhause von ihren Eltern mitgebracht.

"Ich will mich auf dem Laufenden halten"

Der Reiz von Ikea? "Wenn man lange genug sucht, findet man originelle Teile, für die man anderswo viel Geld bezahlen müsste." Der Preis. Die Auswahl. Das ungewöhnliche Sortiment. Viele fahren deshalb "schnell mal zu Ikea", obwohl es nie schnell geht. Aber gibt es sie, die eingefleischten Fans, die einfach so kommen? Immer wieder?

Es gibt sie. Mutter und Tochter haben es sich auf einer Couch kurz vor den Kassen bequem gemacht. Sie haben die Schuhe ausgezogen, die Füße liegen auf einer mit weißem Stoff bezogenen Truhe. "Wir sind ohne wirklichen Grund da", sagt Barbara Hechenthaler, die Mutter.

Manchmal kommt sie von Aschheim aus dreimal im Monat zu Ikea, "wenn ich mir einbilde, ein Zimmer neu einrichten zu müssen". Über die Osterferien ist Tochter Kathrin, 26, zu Besuch, sie ist Innenarchitektin und macht gerade ihren Master in Florenz. "Ich wollte einen Tag lang schauen, um mich auf dem Laufenden zu halten", sagt sie.

Das Konzept von Ikea, dass jedes Möbelstück einen Namen hat und die Designer gezeigt werden, gefällt ihr. Kathrin Hechenthaler ist gern Mitglied der Ikea-Familie. Selbst wenn andere merkten, dass Teile in der Wohnung von Ikea sind, "ist das doch nicht schlimm". "Es ist ein super Konzept für die Masse. Keiner muss hässlich leben in Deutschland", begeistert sie sich. "Lieber soll er einmal weniger in die Türkei fliegen."

Draußen auf dem großen Parkplatz sitzt auf einer Bank eine Frau alleine. Erst beim näheren Hinschauen sieht man, dass das eine Bushaltestelle ist. Linie 222 zur S-Bahn Taufkirchen. Auf dem Rücken trägt Ilona M., 58, einen großen Rucksack, der aussieht, als wäre ein Gleitschirm drinnen.

Ob sie sich komisch fühle angesichts Tausender Menschen, die ihre Einkäufe vor ihren Augen in die Autos packten? "Nein", sagt sie, "mich stört nur, dass es so viele Autos gibt." Ikea mag sie trotzdem. "Für mich ist es erschwinglich, und gerade für kleine Wohnungen haben die intelligente Sachen."

© SZ vom 09.04.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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