Zorneding/Agnuzzo:Der Zauber der Glyzinien

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Die Farben des Südens: Ingrid Köhler hält das prächtige Anwesen der Casa Andreoli in Agnuzzo mit der berühmten Treppe im Bild fest. (Foto: privat)

Künstler im Landkreis haben sich für die Ferien einiges vorgenommen: Die Zornedinger Malerin Ingrid Köhler hat sich in einem alten Palazzo im Tessin einquartiert und wandert auf Hermann Hesses Spuren. SZ-Serie Sommer-Atelier, Teil 3

Von Rita Baedeker, Zorneding/Agnuzzo

Es gibt Orte, die aus der Zeit zu fallen scheinen, Orte wie das Dörfchen Agnuzzo im Tessin. "Ich sitze auf einer prachtvollen Treppe inmitten blühender Glyzinien und schaue auf den in der Sonne leuchtenden See", erzählt Ingrid Köhler in schwärmerischem Tonfall, man spürt deutlich ihre Begeisterung. "Unten tobt der Verkehr, doch hier oben herrscht vollkommene Ruhe. Und jede Stunde entdecke ich ein neues Motiv", berichtet die Zornedinger Malerin von dem Dorf am Luganer See, wo sie bis Ende August mit fünf anderen Künstlern aus Bayern und Österreich in der Casa Andreoli, benannt nach einer alten Adelsfamilie, ein Sommer-Atelier bewohnt.

Sie ist nicht die erste, die sich von diesem Fleckchen Erde in der italienischen Schweiz verzaubern lässt. "Wir wohnen jetzt im kleinsten und friedlichsten Tessiner Dörfchen, das man sich denken kann . . . Über dem See liegt ein Garten und zu dem Garten führt eine breite Glyzinientreppe. Wir haben Schwalben, gemalt an der Decke und draussen über dem Fenchel. Der Blick reicht über das grüne Wasser, in dem sich die Birken spiegeln. . . " Dieser bildhafte Bericht stammt aus der Feder des deutschen Dichters und Mitbegründers der Dada-Bewegung, Hugo Ball, und ist beinahe hundert Jahre alt. In Agnuzzo hat es die Zeit offenbar wirklich nicht besonders eilig.

Der pastellfarbene Renaissance-Bau, der für ein paar Wochen Köhlers Zuhause ist, gehört seit 1942 der Familie des Zürcher Kunsthistorikers, Architekten und Denkmalpflegers Jürg Ganz, der das Anwesen Malern und Schriftstellern Jahr für Jahr öffnet. Besonders beeindruckt ist Köhler von jenem Deckenfresko, von dem schon Ball schwärmte: eine gusseiserne Laube und darüber ein blaues Firmament mit Schwalben im Flug. "Geht man hinaus in den Garten, sieht man genau dieses Bild, nur dass im Moment statt der Schwalben Gänse am Himmel dahinziehen", sagt Köhler. "Es gibt so viele schöne Ecken und Ausblicke. Wenn ich abends durch das riesige Doppelfenster schaue, dann sehe ich den Mond überm See, beobachte, wenn ein Gewitter aufzieht. Das Besondere hier ist das irisierende Licht, sind die Farben." Kein Wunder, dass sie zurzeit an mehreren Bildern gleichzeitig arbeitet.

Ingrid Köhler versteht es meisterhaft, Farben, Charakter und Struktur einer Landschaft in dynamische fantasievolle duftige Kompositionen zu verwandeln. Sie lässt die Elemente Wasser, Luft, Erde miteinander verschmelzen, "die Farben des Himmels sind auch in der Landschaft, und die Landschaft spiegelt sich wiederum in den Farben des Himmels", sagt Köhler über ihre Art zu malen. Beide Sphären, Himmel und Erde, lösen sich in ihrer Malerei auf in einem Licht, das für sie Verlockung und Herausforderung ist, umso mehr an einem Ort wie Agnuzzo.

Auch in ihrem Zornedinger Atelier schaut sie auf die Landschaft. Die ist mit ihren braven Äckern und Feldern und der alten Bundesstraße allerdings weniger spektakulär als der Süden mit seinen üppigen Farben, seiner mediterranen Botanik. Hier in der Tessiner Enklave lässt sie sich von atemraubenden Panoramen, von wechselnden Wolkenstimmungen überm See und der von blauen Glyzinien-Dolden umkränzten Treppe inspirieren.

In Malerei und Literatur haben Treppen eine starke Symbolkraft. Als architektonisches Motiv gliedern sie Raum und Komposition; in der Bildenden Kunst wie in der Dichtung stehen die Stufen für Ebenen des Bewusstseins, für Aufstieg, Untergang, die Dimension der Zeit. Eines der bekanntesten Gedichte von Hermann Hesse heißt "Stufen". Darin schreibt er: "Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten." Es ist das oft zitierte Gedicht, das mit den Worten "und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. . . " beginnt. Ein Zauber, dem Ingrid Köhler gerade erliegt.

Entdeckt hat sie das Dorf bei einer Exkursion zum Thema "Die Schwabinger Bohème auf dem Monte Verità bei Ascona", veranstaltet von der Kirchseeoner Literaturwissenschaftlerin Kristina Kargl. "Das war eine tolle Reise", erinnert sich Kargl. "Wir haben im Tessin so viel entdeckt, etwa den steinernen Tisch der Schwabinger Gräfin Franziska zu Reventlow." Bei dieser Reise erfuhr Köhler im Hermann-Hesse-Museum in Montagnola von dem Haus in Agnuzzo und kontaktierte den Besitzer. Der zeigte sich offen für ihr Anliegen. "Schön ist auch, dass wir hier so viel Platz für die Bilder und Mal-Utensilien haben."

Nicht nur das Haus, auch der Garten ist ein Paradies mit altem Feigenbaum, Weinreben, mit Tischen aus schwerem Granit, über die zahllose Eidechsen huschen. Wenn Köhler wandern geht, etwa auf einem einsamen Waldweg zum See, dann dient Hesse ihr dabei als Reiseführer. "Er schreibt wie ein Maler. Die Wege, die er in 'Klingsors letzter Sommer' beschrieben hat, die kann man alle nachgehen."

Das herrschaftliche Anwesen an der Piazzetta Roncorino, in dem sie malt, hat zahlreiche Persönlichkeiten beherbergt. Hesse, der gegenüber in Montagnola lebte, zählte ebenso zu den Besuchern wie der Maler Carl Hofer, der Maler, Bildhauer und Dichter Jean Arp und die Lyrikerin Meret Oppenheim. Vor allem aber Emmy Ball-Hennings, Vertreterin der dadaistischen Bewegung und Lebensgefährtin von Hugo Ball, - er hat die erste Biografie über Hermann Hesse geschrieben und laut Kristina Kargl eine Zeitlang in Schnaitsee bei Wasserburg gelebt-, war hier zu Hause. Während des Krieges hatten Einheiten der Schweizer Armee im Garten Maschinengewehrstellungen eingerichtet, Mussolinis Italien lag ja in Sichtweite. Auch Soldaten waren hier öfter mal einquartiert.

Als Ball-Hennings wegen säumiger Mietzahlungen ausziehen musste, beklagte sie sich bei Hermann Hesse über den Verlust. "Das verborgene Leben abseits der großen Heerstraße. Das Paradies: Agnuzzo. Unsere Fenster waren dem Garten, dem See und den Bergen zugewandt und insofern auch unsere Augen. Von unserem Haus aus sahen wir weder Menschen noch Häuser, es war, als wären wir allein auf der Welt. Die kostbarste Einsamkeit, die man sich nur denken kann." Zusammen mit Hugo Ball, der früh starb, zählte sie 1916 zu den Mitbegründern des "Cabaret Voltaire" sowie der "Galerie Dada" in Zürich.

Heute wohnen in Agnuzzo keine Aussteiger mehr. Zu den Dorfbewohnern hat Ingrid Köhler, die Italienisch spricht, guten Kontakt. "Wir feiern und essen zusammen", erzählt sie. "Die Atmosphäre hier knistert, ich bin total kreativ und viel freier". Inmitten blühender Glyzinien ruht der Lärm der Welt. Damals wie heute.

© SZ vom 27.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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