Zorneding:Mehr Zeit für die Bewohner

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Das Seniorendomizil in Zorneding nimmt an einem Projekt zur Entbürokratisierung teil und stellt die Pflegedokumentation um. Profitieren soll auch das Personal

Von Jessica Morof, Zorneding

Anklopfen, Licht anschalten und Bewohner begrüßen, dann den Rolladen hochziehen: Das alles gehört zu einem Morgenritual in Pflegeheimen im gesamten Landkreis dazu. Ganz selbstverständlich läuft der Prozess immer wieder ab, sodass die Pflegekräfte gar nicht darüber nachdenken müssen. Und trotzdem sieht das Gesundheitswesen vor, dass all diese Handlungen täglich dokumentiert werden müssen. Es gilt: Was nicht in der Pflegedokumentation festgehalten wird, ist auch nicht passiert. Im Seniorendomizil Haus Bartholomäus in Zorneding soll aber von nun an der Dokumentationswut Einhalt geboten werden - zum Wohle der Bewohner und der Pfleger.

Als erstes Pflegeheim im Landkreis nimmt die Einrichtung des Trägers Compassio an dem Projekt "Entbürokratisierung in der Pflege" teil. Dieses hat das Bundesministerium für Gesundheit aufgebaut, um die Pflegedokumentation zu vereinfachen. "Das Ziel ist ein alltagsorientiertes Betreuungskonzept", fasst Stefan Schmidt, Leiter des Pflegeheims Bartholomäus, zusammen. Das heißt, die Mitarbeiter sollen weniger Zeit in die Dokumentation ihrer Arbeit stecken und mehr Gelegenheit haben, sich den Bewohnern zuzuwenden: Mit Vorlesen, Spielen oder Gesprächen. Alltag bedeutet zudem, dass die Bewohner auch in die Tagesabläufe eingebunden werden; zum Beispiel durch kleine hauswirtschaftliche Tätigkeiten wie Tischdecken. Man lege also mehr Wert auf ein Miteinander, so Schmidt.

"Der Dokumentationskatalog war zu umfangreich", sagt er. Der Grund: Jedes Jahr gebe es im Gesundheitssystem neue Themen, auf die der Fokus fällt. Und passend dazu kämen zusätzliche Anforderungen an die Einrichtungen hinzu. Dokumentiert wurde nach dem Motto: Was nicht im Protokoll steht, ist auch nicht geschehen. Wenn nur die Grundpflege eines Bewohners erfasst war, nicht aber das Auskleiden zuvor, müsste der Bewohner also noch seine Kleidung angehabt haben. "Das ist natürlich Unsinn", so Schmidts Fazit. Deshalb war er sofort interessiert, als sich die Möglichkeit einer Teilnahme am Projekt ergeben hat.

Die neue Dokumentation soll nun die Komplexität senken. Zu Beginn füllen Pflegefachkräfte gemeinsam mit den Bewohnern für jeden eine strukturierte Informationssammlung - kurz SIS - aus. Darin halten sie fest, welche Pflegetätigkeiten sich der Bewohner wünscht und was er noch selbst ausführen kann. Daraus ergeben sich die Maßnahmen für das Personal. Solange diese normal erfüllt werden, muss der Mitarbeiter dies nicht speziell festhalten; dokumentiert werden künftig nur noch Abweichungen.

Die Verantwortung für die Pflegekräfte wächst

Ist beispielsweise festgelegt, dass Herr W. sich morgens selbst wäscht, dies aber an einem Tag nicht schafft, ist dies eine Abweichung. Ob sie im Protokoll festgehalten werden muss, hängt allerdings auch von den Gründen ab: Ist es eine dauerhafte Einschränkung oder nur eine einmalige? Müssen Pflegemaßnahmen angepasst werden oder nicht? Die Entscheidung trifft also immer die Pflegekraft und damit wächst auch die Verantwortung. "Der qualitative Anspruch an die Pflegefachkräfte wird höher", stimmt Schmidt zu. "Aber der quantitative sinkt dafür." Ihm sei es jedenfalls lieber, die Mitarbeiter würden zehn Minuten intensiv über die Entwicklung des Bewohners nachdenken und dann das Nötige aufschreiben, statt 30 Minuten einfach alles zu dokumentieren. Wer sich mit der Pflege auskenne, könne das abschätzen.

"Eine Zeitersparnis ist auf jeden Fall gegeben", betont Heike Reinhart-Keller, die Pflegedienstleitung im Haus Bartholomäus. Bislang sei eine Pflegefachkraft je Schicht etwa eine Stunde mit der Dokumentation beschäftigt. Künftig solle dies sehr viel schneller gehen. Zudem würden die neuen Protokolle verständlicher werden und somit die wichtigen Faktoren deutlicher darstellen. Und, so sagt Reinhart-Keller: "Bei den Bewohnern kommt dies auch als Wertschätzung ihrer Person an." Denn sie selbst können die Maßnahmen mitbestimmen und gerade in der Umstellungsphase beschäftige man sich noch intensiver mit ihnen. Und auch im weiteren Pflegeverlauf haben sie die Möglichkeit, ihre Unzufriedenheit in Maßnahmenveränderungen einfließen zu lassen.

Ob alle Vorteile, wie Schmidt und Reinhart-Keller sie voraussehen, tatsächlich eintreffen werden, bleibt aber abzuwarten. Noch ist das Team des Seniorendomizils mit der Umstellung aller Bewohner nach dem neuen System beschäftigt; der Einrichtungsleiter hofft , im März mit der neuen Dokumentation zu beginnen. Einige Hürden wird das Pflegeheim bis dahin noch nehmen müssen. Die Pflegekräfte zeigten sich zwar erfreut über die Veränderungen, doch bedeutet sie auch Engagement von ihrer Seite. Gerade langjährigen Mitarbeitern könnte es schwerfallen, sich von den festen Strukturen loszueisen.

Noch ist fraglich, wie der Medizinische Dienst die Neuerungen in seinen Pflege-TÜV einarbeitet

Und auch die Einschätzung der Abweichungen könnte zu Beginn herausfordernd sein. Hilfestellung sollen Reflexionstreffen mit anderen Compassio-Einrichtungen geben, die ebenfalls aktuell umstellen. Und zu guter Letzt muss sich auch noch zeigen, wie der Medizinische Dienst der Krankenversicherung mit der neuen Pflegedokumentation umgeht, wenn er die Einrichtung für den sogenannten Pflege-TÜV prüft. Denn bei den Prüfungen sei es bisher vor allem um die Dokumentation gegangen, sagt Schmidt. Die Aussagen der Pflegefachkräfte und der Bewohner seien dabei bislang zu kurz gekommen. Nun müsse der Prüfer noch mehr auf die Pflegefachkraft eingehen. Das sei zwar von Vorteil, doch die Mitarbeiter müssten auch lernen, sich und ihre Arbeit selbstbewusster vor den Prüfern darzustellen.

"Es bleibt auf jeden Fall spannend", sagt Schmidt. Trotzdem sind sich er und Reinhart-Keller einig: "Die Pflegekräfte werden unter deutlich weniger Stress stehen", sagen sie voraus. Und dadurch bleibe mehr Zeit für die Bewohner.

© SZ vom 15.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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