Von der Ostfront auf die Gustloff:Unglaubliches Überleben

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Chronist vieler Kriegsgeschichten: Der Grafinger Autor Klaus Willmann liest in der Grafinger Stadtbücherei aus seinem neuen Werk. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Der Grafinger Klaus Willmann stellt sein neues Buch über die Erlebnisse eines deutschen Soldaten vor

Von Valentin Tischer, Grafing

Es herrscht gespannte Ruhe, während Klaus Willmann aus seinem Buch liest. In der Stadtbücherei Grafing erzählt der Grafinger Autor die Geschichte von Hans Fackler, eines Überlebenden des Zweiten Weltkriegs. Es ist Willmanns drittes Buch, das sich mit diesem Kapitel deutscher Zeitgeschichte auseinandersetzt.

Mit dem Schreiben hat Willmann im Ruhestand begonnen. "Damit ich nicht einroste", sagt der ehemalige Zollbeamte. Den Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg widme er sich, um sie für die Nachwelt zu bewahren. Veröffentlicht wurden seine Werke gleich vom ersten Verlag, dem er sie angeboten hatte, alle sind schon in mehreren Auflagen erschienen, manche sogar ins Englische übersetzt worden.

Willmann selbst hat den Zweiten Weltkrieg nur in Deutschland erlebt: Er war mit zwölf Jahren zu jung, um eingezogen zu werden. Zwei Jahre lang sei er beim Jungvolk gewesen, erzählt er. "Aber ich habe vier Jahre gebraucht, um den ganzen Scheiß wieder aus dem Kopf zu kriegen." Noch heute treibe ihn die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus an. Gerade jungen Menschen will der Grafinger zeigen, "was so raffiniert an der Erziehung der Nazis war".

Willmanns Bücher sind stets der Arbeit mit Zeitzeugen entsprungen: Er hat sich mit ihnen unterhalten und die Gespräche zu Papier gebracht. So sind Berichte über die Kriegsgefangenschaft in Russland oder den U-Boot-Krieg entstanden. Den Zeitzeugen kommt darin die Rolle eines erinnernden Erzählers zu, der von seinen Erlebnissen, Gefühlen und Gedanken ganz persönlich berichtet. So auch in Willmanns neuem Buch "Schreie der Ertrinkenden", das der Autor an diesem Abend in der Grafinger Bücherei vorstellt. Willmann hat die Geschichte in Form eines Bewusstseinsstroms eingefangen. Er lässt seinen Protagonisten in der Ich-Form erzählen und nimmt die Rolle eines Chronisten ein. Das Buch schildert die Geschichte von Hans Fackler, der als 17-Jähriger eingezogen und an die zusammenbrechende Ostfront geschickt wurde. Heute lebt er bei Glonn. Vor allem für die Enkel habe der 91-Jährige seine Lebensgeschichte aufschreiben lassen, sagt Willmann.

"Dieses Buch möchte alles sein, aber keine Verherrlichung des Heldentums", zitiert der Autor aus seinem Vorwort, ein leidenschaftliches Plädoyer für Frieden in Europa und gegen den Krieg. Die Erinnerungen Facklers, der im Buch meist schlicht Hans genannt wird, hat wenig mit Mut oder Aufopferung zu tun, sondern mit dem nackten Überleben - dank Glück und Zufall.

In Ostpreußen gerät die Einheit des 17-Jährigen in ein Scharmützel mit überlegenen sowjetischen Kräften. Die deutschen Soldaten müssen sich zurückziehen, wobei der junge Mann von Granatsplittern schwer verletzt wird. Chronist Willmann schreckt dabei auch vor drastischen Schilderungen nicht zurück: "Ich spürte, dass ein Teil meiner Nase kurz über meinen Lippen hing." Schwer verwundet und bewusstlos bleibt der 17-Jährige in der Kampfzone zurück. Nur durch Zufall kann ein deutscher Sanitäter ihn retten. "Dich hat es ganz schön erwischt, aber das ist besser als der Heldentod", wird er von Willmann zitiert. Um Fackler und andere Verwundete zu einem Sammelplatz zu bringen, steht dem Sanitäter nur ein Schlitten mit Pferd zur Verfügung. Während der Evakuierung wird das Gefährt jedoch beschossen, das Pferd geht durch. Mehrmals kommt es fast zu Zusammenstößen mit Bäumen oder großen Steinen, Kollisionen, die Fackler und die anderen mit Sicherheit getötet hätten. Schließlich kann ein weiterer Versprengter das Pferd beruhigen und die Gruppe zu einem Sammelpunkt bringen. Dort sterben viele der Verletzten, bevor sie auf ein Schiff verladen werden können. Fackler aber hat Glück und wird von Matrosen auf ein Schiff gehievt - auf die Wilhelm Gustloff.

Außer Gefahr ist er damit noch lange nicht: Das Schiff wird von einem russischen U-Boot versenkt, mehr als 9000 Menschen sterben, es ist eines der schwersten Schiffskatastrophen der Geschichte. Fackler hat erneut Glück und wird, weil er verwundet ist, als einer der Ersten auf ein Rettungsboot geladen. Doch er muss viele andere ertrinken sehen, ohne ihnen helfen zu können. Das sei ein einschneidendes Erlebnis gewesen, erzählt Willmann. Die verzweifelten Schreie, die "Teppiche" aus erfrorenen und ertrunkenen Menschen in Schwimmwesten hätten Fackler sein Leben lang verfolgt, so der Autor. Daher der Titel des Buches. Über allerhand Irrwege gelangt Fackler in seine Heimat München. Die Geschichte ist voller Zufälle und glücklicher Fügungen, weshalb es nicht besonders stört, dass Willmann sie ohne größere schriftstellerische Ambitionen aufgeschrieben hat. Vor allem vorgelesen entfaltet die Erzählung eine Anziehungskraft, die nicht nur Geschichtsinteressierte hinein zieht.

© SZ vom 12.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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