Vaterstettener Rathauskonzerte:Ein Griff nach der Seele des Publikums

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Einen unvergesslichen Abend beschert die "Barrelhouse Jazzband" ihren Zuhörern beim Vaterstettener Rathauskonzert am Reitsbergerhof. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Die "Barrelhouse Jazzband" bringt am Reitsbergerhof ihre Zuhörer äußerlich und innerlich in Bewegung. Das Ensemble um Bandleader Reimer von Essen bietet einen Abend voller erleuchteter Momente

Von Ulrich Pfaffenberger, Vaterstetten

In Ehrfurcht erstarren angesichts von mehr als 500 Jahren Profi-Erfahrung? Scheue Zurückhaltung zeigen wegen eines großen Namens? Das mag auf dem Rasen eines Fußballstadions vorkommen, aber nicht, wenn die Barrelhouse Jazzband spielt. Denn wenn das Ensemble um Bandleader Reimer von Essen loslegt, dann entfesselt ihr unvergleichlicher Swing unmittelbare körperliche Wirkung beim Publikum, dann ergreift deren Markenzeichen, die kreolische Komponente, unmittelbar die Seele. Dann kommt in Gehirn und in Körper alles in Bewegung, was Musik bewegen kann. Beim zweiten Sonderkonzert im Jubiläumsjahr der Rathauskonzerte Vaterstetten am Samstagabend auf dem Reitsbergerhof war die archaische Kraft hautnah spürbar, die Live-Musik entfalten kann und wie sie nur Musiker zustande bekommen, die ihre Kunst uneingeschränkt leben und lieben: Aus der Vitalität der knapp 80-jährigen Bläser dieser Band allein ließe sich reichlich Energie für eine ganze Fußballmannschaft ziehen.

Wobei auch sie nicht vor Zipperlein verschont sind, wie der Ausfall des eigentlich als Gast vorgesehenen Saxophon-Könners Karl Friedrich "Charly" Fürst von Hohenzollern wegen eines Bandscheibenvorfalls zeigt. An seiner Stelle stand in der dicht gefüllten Halle ein Gustl Mayer auf der Bühne, der mit seinen 82 Jahren alles und mit allen gespielt hat, was im Jazz zählt - und der seinen Part mit einer Lockerheit und verschmitzten Eleganz serviert, die das Herz erwärmt und die Ohren kitzelt. Allein schon eine solche Begegnung mit lebendiger Jazz-Geschichte rückt das Konzert auf einen Sonderplatz im musikalischen Erinnerungsalbum des Publikums. Die Art und Weise, wie hier ein prägender Musikstil erlebbar wird, zementiert es dann ein: Standards spielen können viele, Standards setzen nur wenige - wie die "Barrelhouse Jazzband" eben. Man wird nicht von ungefähr als ganzes Ensemble Ehrenbürger von New Orleans.

Sucht man nach einem Rezept für diese Klasse, dann genügt es schon, bei einem Konzert wie am Samstag genau hinzuhören und hinzusehen. Die Kommunikation zwischen den Mitgliedern der Band folgt, oberflächlich betrachtet, den üblichen Jazz-Bräuchen. Eine kleine Geste hier, eine angedeutete Körperwendung dort - und schon sind die nächsten Einsätze und Soli abgestimmt. Der größere Genuss aber liegt darin, die Veränderungen bei Tempi und Tonlagen der Musiker zu erkennen, an denen sich das gerade gespielte Stück wie an den Fäden einer Marionette bewegt, wandelt und entwickelt.

An den Fingerspitzen von Christof Sänger zum Beispiel, dem sagenhaften Pianisten des Ensembles, entzündet sich eine Kette von Big Bangs für das evolutionäre Spiel der Band, die dem göttlichen Funken Michelangelos in der Sixtina gleichen. Frank Selten wiederum zeigt nicht nur beim Spiel mit dem Baritonsaxophon, wie sehr jeder Musiker der Gruppe mit der Seele der anvertrauten Instrumente umzugehen weiß, sondern auch, wie man sie so streichelt, dass sie vor Lust zittern. Horst "Morsch" Schwarz auf Posaune und Trompete sowie Reimer von Essen an der Klarinette brillieren im Stil von Edelsteinschleifern, die selbst kleinsten Facetten noch strahlendes Licht schenken. Hier wird kein Modeschmuck produziert, hier geht es um Geschmeide von ewiger Strahlkraft - sprich: respektvollen Umgang mit dem originalen Material bei gleichzeitig selbstbewusster Kreativität im Schaffen eigener Kunst.

Dazu passt vorzüglich die verzaubernde Leichtigkeit der Rhythmusgruppe. Sie hat die Transparenz und Leichtigkeit des Eiffelturms - aber eben auch seine Stabilität und Prägnanz. Lindy Huppertsberg tanzt einen schwindelfreien Groove über die Saiten auf ihrem Bass, Roman Glöcker setzt mit inspiriertem Griff farbige Akzente auf seiner Gitarre und seinen Banjos und Michael Ehret am Schlagzeug ist für den Aufbau des Spiels und die Dynamik im Vortrag das, was einst Günter Netzer für die Nationalelf war: der Gestalter aus der Tiefe des Raums.

Wieviel Poesie im Jazz steckt, wieviel impulsive Energie im Swing, wieviel Esprit in der "Barrelhouse Jazzband", das wird keiner vergessen, der an diesem Abend einem "Caravan" aus kunstvoll gewobenen Klangbändern gelauscht hat, einem "Let it be", das in den Farben eines instrumentalen Prismas changiert, einem "A tisket, a tasket" von kindlicher Unbeschwertheit oder einem "It had to be you" voller erleuchteter Momente - der wird das so schnell nicht vergessen. Genauso wenig wie den jubelnden Applaus, wie ihn selbst die mit Delikatessen gesegneten Rathauskonzert-Fans nicht alle Tage gewähren.

© SZ vom 09.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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