Vaterstetten:Leben durch Schmerz

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Die Vaterstettener Jugendpsychiaterin Claudia Michael informiert in der Baldhamer Realschule über selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen

Von Annalena Ehrlicher, Vaterstetten

"Zirka elf Prozent der Jugendlichen geben an, sich schon mindestens einmal selbst körperlich verletzt zu haben", sagt Claudia Michael, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Sie beruft sich auf Zahlen des Bremer Wissenschaftlers Dennis Nitkowski. In der Realschule Vaterstetten spricht Michael am Donnerstagabend auf Einladung von Vaterstettens Jugendpfleger Jörg Cordruwisch vor Lehrern, Eltern und Schülern über "selbstverletzendes Verhalten".

Dazu gehört nicht nur das Aufritzen von Haut oder Verbrennen, beispielsweise mit Zigaretten. "Selbstverletzendes Verhalten geht weiter, und wir wollen die Sensibilität dafür steigern", erklärt Michael. Obwohl Schnittwunden mit zirka 62 Prozent die am häufigsten auftretende Form ist, zählen auch exzessives Nägelkauen, Hautschäden durch Waschzwang, Tattoos und Piercings sowie Promiskuität, Drogenmissbrauch und pathologisches Essverhalten im weiteren Sinne dazu. Bei Jungs ist es auch relativ häufig, gegen Gegenstände zu schlagen, bis die Knöchel aufplatzen", fügt die Ärztin hinzu.

Cordruwisch erklärt den Anlass des Abends: "Der Bedarf, darüber zu sprechen, ist meiner Meinung nach in der letzten Zeit nicht immens größer geworden." Dennoch: "Das Thema ist einfach da." In der Gesellschaft werde es zu stark tabuisiert und unter den Teppich gekehrt, so der Jugendpfleger. Und das, obwohl er unter Jugendlichen das Thema schon häufiger aufgeschnappt habe. Die große Zahl von Eltern und Lehrer, die am Infoabend teilnehmen, zeigt, dass das Problem viele beunruhigt.

In der Regel liegt eine "direkte Schädigung der Haut vor", so Michael, üblicherweise an den Unterarmen und Handgelenken in über der Hälfte der Fälle. Auch Oberarme, Oberschenkel, Hände, Bauch und Genitalien können betroffen sein. Etwa vier Prozent der Jugendlichen geben an, häufiger Gewalt gegen sich anzuwenden. Dabei treten die Selbstverletzungen oft zyklisch auf, das Verhalten wird zunächst beendet, dann aber wieder aufgenommen.

"Vor allem Mädchen sind davon leider betroffen", erklärt Michael. Das Durchschnittsalter, in dem solches Verhalten auftritt, liegt zwischen zwölf und 14 Jahren, mit zunehmendem Alter nimmt das selbstverletzende Verhalten für gewöhnlich ab. Dennoch "sollte man es ernst nehmen und nicht glauben, ,Das verwächst sich schon wieder'", mahnt Michael. Als Gründe geben die Kinder beispielsweise an, "sich nicht mehr zu spüren". Für manche ist es eine Art, ihre Affekte zu regulieren oder einer Dissoziation entgegenzuwirken, das heißt, die Trennung von Wahrnehmung und Gedächtnis zu verhindern. Gerade bei Opfern von Missbrauch sei das häufig der Fall. Die Jugendlichen geben dann an, sich "mit dem Schmerz in die Realität zurückzuholen", so Michael.

"Was mache ich denn akut, wenn ich mitbekomme, dass ein Jugendlicher das macht? Oder dass er anderen seine Narben zeigt?", fragt eine Dame aus dem Publikum. "Immer den Dialog suchen", so die Jugendpsychiaterin. "Es ist wichtig, dass sich die Kinder nicht gegenseitig dazu anzustiften", erklärt sie, "und trotzdem ist es wichtig, auch an die Schweigepflicht zu denken und nicht direkt zu den Eltern zu gehen." Eine Mutter wirft dazu ein: "Aus meiner Perspektive finde ich es schwierig, sich nicht an die Eltern zu wenden, wenn man mitbekommt, dass ein Kind sich ritzt." Michael erwidert: "Naja, das Gute ist doch, dass sich der- oder diejenige Hilfe geholt hat."

Auch emotional instabile Borderline-Störungen gehen oft einher mit dem Phänomen, "für Jugendliche mit dieser Störung ist das Ritzen typisch", so die Ärztin. Wichtig sei grundsätzlich, zwischen Suizidalität und selbstverletzendem Verhalten zu unterscheiden. Michael fordert auf, in diesem Punkt vorsichtig nachzufragen, ob eine Suizidabsicht bestehe. Häufig schrecken Eltern und Lehrer davor zurück, "weil man ja niemanden auf dumme Gedanken bringen will", sagt Michael, "aber die Frage ist sehr wichtig!" Auch der Häufigkeitsgrad und die Schwere der Verletzungen seien dafür gute Indikatoren.

Im Lauf des Abends erzählt ein Jugendlicher von Bekannten, die viel rauchen und trinken "und einfach fertig sind". Häufig bekomme er Nachrichten, in denen er mit deren selbstzerstörerischem Verhalten konfrontiert werde. Michael antwortet entschieden: "Du hast die Freiheit, zu sagen: Ich kann das nicht, halt mich da raus." Das sei nicht die Aufgabe von Gleichaltrigen. Anita Ruppelt, Schulleiterin der Realschule Vaterstetten, wirft ein: "Das ist ja auch für uns Erwachsene schwer!" Sie betont, wie wichtig der Austausch zwischen Lehrern, Sozialarbeitern und Psychologen ist. "Das Wichtigste ist", so Michael, "dass man nie aus Angst das Gespräch scheut."

© SZ vom 17.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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