Vaterstetten:Hilfe aus höchster Not

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Die Sozialen Dienste in Vaterstetten begleiten psychisch Kranke in die Gesellschaft zurück. Von September an wird es auch eine Krisen-Hotline geben

Von Alexandra Leuthner, Vaterstetten

Vielleicht hatte Mats Hummels sogar ein bisschen Angst, sicher aber einen Heiden-Respekt, als er im Viertelfinalspiel gegen Italien vor wenigen Tagen zum Elfmeterpunkt schritt. Er beschrieb seine Gefühle allerdings mit anderen Worten: "Es ist ein langer Weg, wenn man da hingeht, viele Gedanken. . .", sagte er hinterher in einem Fernsehinterview. Dem Fußballer fiel es leicht, seine Gefühle in diesem einen Augenblick zu beschreiben.

Für Menschen, bei denen aus dem mulmigen Gefühl, aus der Angst vor einem besonderen Geschehen, die Angst vor Allem das bestimmende Lebensgefühl geworden ist, so wie bei vielen der Klienten, die im Haus der Sozialen Dienste an der Vaterstettener Dorfstraße untergebracht sind, ist das ganz anders. Sie können dieses Gefühl kaum mehr artikulieren, einordnen. Wer an einer schweren Angststörung leidet, der kann der ständigen Bedrohung, die ihn innerlich lähmt, dem Gefühl, das ihm eigentlich ein Schutz sein und ihn nur dann warnen soll, wenn tatsächlich Gefahr droht, nirgends mehr entkommen. Es kann zum unüberwindlichen Hindernis werden, morgens seine Füße auf den Boden neben das Bett zu stellen, wenn Dämonen darunter lauern. Neben allgemeinen Angststörungen sind es oft Schizophrenie oder manische Depression, die Menschen in die stationäre Einrichtung in Vaterstetten führen, psychische Krankheiten, die sie über Jahre, manche auch ein Leben lang begleiten.

"Unsere Klienten sind in der Regel schwer krank, wenn sie zu uns kommen", sagt Geschäftsführerin Barbara Portenlänger-Braunisch. Das Haus in der Dorfstraße wurde vor 22 Jahren eingerichtet, um psychisch kranken Menschen ins Leben zurück zu helfen. Eine ganze Abteilung wurde damals aus dem Haarer Klinikum hierhin verlegt. Noch vor wenigen Jahrzehnten hatten schwer psychisch Kranke nur geringe Aussichten, aus den Verwahrstationen, wie man die geschlossenen Abteilungen von Häusern wie dem Isar-Amper-Klinikum nannte, wieder heraus zu kommen.

In Vaterstetten, wo die Patienten in Ein- und Zweibettzimmern untergebracht sind, müssen sie an einem geregelten Tagesablauf teilnehmen. Sie werden vormittags in den Werkstätten des hofartigen Gebäudeensembles erwartet, wo sie in die Holz- Glas- oder Keramikherstellung eingebunden werden, nachmittags gibt es Kleingruppenangebote, die sie auffangen. Sie sind auch verpflichtet, sich einer psychiatrischen Behandlung zu unterziehen und regelmäßig die verordneten Medikamente zu nehmen. Ansonsten aber können sie sich frei bewegen, bekommen ein Taschengeld und dürfen das Haus auch verlassen. "Wobei wir sie dazu eher ermutigen müssen. Menschen mit psychischen Störungen sind meist zurückhaltend und es ist schwer für sie, ohne ihre vertraute Umgebung klar zu kommen." Damit das Konzept funktioniert, können in Vaterstetten - und auch in den Wohngemeinschaften, die unter Trägerschaft der Sozialen Dienste im Münchner Stadtgebiet verteilt sind - keine Menschen aufgenommen werden, die "selbst- oder fremdgefährdend sind". Das könnten die 120 Mitarbeiter in 18 Einrichtungen gar nicht leisten. Ein Haus für zwölf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Grünwald soll im kommenden Frühjahr als 19. Einrichtung dazu kommen; die einzige, in der es um Jugendliche geht, auch die einzige, in die ausschließlich gesunde Menschen aufgenommen werden

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(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Freuen sich auf bald größere Räume: Barbara Portenlänger-Braunisch und Jasper Pieffers.

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(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Keramik und andere Dekoartikel...

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(Foto: Peter Hinz-Rosin)

...werden in den Werkstätten hergestellt.

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(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Werkstattleiter Jasper Pieffers schaut Erich Hofmann beim Gartenzwerg anmalen über die Schulter.

Sämtliche Betreuer sind Sozialpädagogen oder Fachkräfte, die Betreuungsintensitäten sind unterschiedlich und dem individuellen Bedarf der Kranken angepasst. So wohnen etwa im Boardinghaus am Münchner Elisabethenmarkt 37 vorwiegend junge Menschen in Appartements, die sich selbst versorgen und so "das Gefühl haben, dass sie in ihrer eigenen Wohnung leben". Aber bis auf dreieinhalb Stunden am Tag ist immer ein Ansprechpartner im Haus, und sie werden nach einem festen Schlüssel betreut. "Manch einer braucht nur für sechs Stunden die Woche eine Bezugsperson, ein anderer alle zwei Stunden täglich", sagt Portenlänger-Braunisch. Im BELA (Betreutes Einzelwohnen in der Landwehrstraße) kümmern sich die Mitarbeiter der Vaterstettener Organisation um Alkoholiker. "Sie sind oft seit 20, 30 Jahren krank, da geht es erst einmal darum, sie wieder in ärztliche Versorgung zu bekommen, die Wohnung zu entrümpeln, die Bürokratie in Ordnung zu bringen, ihnen eine EU-Rente zu sichern", erzählt die Geschäftsführerin.

Letztlich aber stehe bei allen Angeboten als Ziel über allem, "die Menschen wieder zu stabilisieren, sie zurück in die Gesellschaft zu bekommen." So wie bei Lena H., (Name geändert). 48 Jahre alt war sie, als sie ins Haus an der Dorfstraße kam. Sie litt unter einer schweren Psychose, hatte sich völlig von der Gesellschaft abgeschottet, ihre Wohnung nicht mehr verlassen. Nach drei Jahren konnte sie dann in eine Wohngemeinschaft in Berg am Laim umziehen. "Nach acht Jahren hat sie keine Betreuung mehr gebraucht. Unsere Mitarbeiter haben ihr geholfen, eine Wohnung auf dem freien Markt zu finden. Und heute arbeitet sie sogar wieder." Solche Erfolgsgeschichten seien die Antriebsfeder, die sie und ihre Mitarbeiter motivierten, sagt Portenlänger-Braunisch. Und auch wenn es Menschen gebe, die in ihrem Leben nie mehr ohne Hilfe auskommen könnten, bei denen es nur darum gehe, zu verhindern, dass ihr Zustand sich verschlechtere, seien doch diese anderen der beste Beweis dafür, dass das Konzept der Rückführung in die Gesellschaft funktioniere.

Umso mehr ärgert sich Portenlänger-Braunisch über das Zögern der Krankenkassen, sich an der Finanzierung des Krisendienstes zu beteiligen, der von September an auch im Landkreis Ebersberg greift. Auch die telefonische Hotline, über die Betroffene, Angehörige oder Nachbarn Hilfe holen können, sei ja dem Bestreben geschuldet, psychisch Kranke gar nicht erst in eine teuere stationäre Unterbringung einweisen lassen zu müssen, argumentiert sie. Das Krisendienstteam berät erst einmal telefonisch in akuten psychischen Notsituationen, im Ernstfall werden dann zwei Mann ins Haus geschickt. Im Raum München gibt es das Angebot, finanziert von der Regierung von Oberbayern, bereits seit dem Jahr 2000. Mitarbeiter der Sozialen Dienste beteiligen sich seither an der Beratung in der Leitstelle in München-Sendling. Die Hilfesuchenden kommen längst nicht alle aus dem Stadtgebiet. Seit 1. Juni ist auch der Landkreis München mit im Boot.

Heißer Ofen: die Brennkammer der Keramikwerkstatt. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Tagsüber wird das Ebersberger Team beim SPDI (Sozialpsychiatrische Dienste) in Ebersberg sitzen, den Abenddienst, von 16 bis 21 Uhr, übernehmen dann die Sozialen Dienste in Vaterstetten. "Wenn jemand einen schweren, psychischen Anfall hat, und die Nachbarn uns rufen, dann kommen wir und reden mit dem Betroffenen. Das ist geräuschlos und für ihn viel weniger beschämend, als wenn die Polizei vorfährt", die dann solche Menschen meist auf direktem Weg ins Klinikum bringe. "Das versuchen wir zu vermeiden. Wir planen vom Aufnahmetag an die Entlassung und den Weg zurück in die Gesellschaft."

So sind auch die Neubaupläne für das Haus an der Dorfstraße diesem Ziel untergeordnet. Anfang 2017, so hofft Portenlänger-Braunisch, können die Sozialen Dienste mit dem Bau eines neuen Hauses im Vaterstettener Nord-Osten beginnen, über die Pläne berät bereits der Gemeinderat. Etwas größer soll es sein, 60 statt jetzt 43 Plätze soll es haben, und an die modernisierten Anforderungen des Pflegewohnqualitätsgesetzes angepasst sein. "Das heißt Einzelzimmer für jeden, barrierefreier Zugang, ein eigenes Bad und eine Kochgelegenheit." So sollen die Klienten während ihres Aufenthalts in Vaterstetten nach und nach immer mehr Selbständigkeit zurück erlangen, das Abendessen, sich im nächsten Schritt dann vielleicht das Frühstück wieder selbst herrichten. "Viele haben komplett verlernt, sich um ihre Wohnung zu kümmern, da müssen am Anfang alles Reinigungskräfte übernehmen." So nahe an Realbedingungen, wie in solch einem geschützten Rahmen möglich, sollen die Kranken heran geführt werden. "Wie aber sollen sie kochen, ohne Küche?", fragt Portenlänger-Braunisch. Und wir würden ja schließlich auch nicht über Jahre hinweg in einem Doppelzimmer leben wollen."

© SZ vom 12.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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