Vaterstetten:Gold-Guido nimmt die Hürde

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Vier Wochen nach einer Netzhaut-OP trainiert Guido Müller wieder im Vaterstettener Stadion. Sein Ziel: Die Europameisterschaft in Dänemark. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

44 WM-Titel, 95 EM-Siege: Guido Müller vom TSV Vaterstetten gilt als erfolgreichster Leichtathlet seiner Altersklasse. Vor vier Wochen wurde er notoperiert - jetzt startet der 78-Jährige wieder ins Training

Von Max Nahrhaft, Vaterstetten

Ende März in Rom. Guido Müller, 78, ist auf Urlaub mit seiner Frau, als er plötzlich auf einem Auge nichts mehr sehen kann. Der Arzt diagnostiziert eine abgelöste Netzhaut, gleich am folgenden Tag wird Müller notoperiert. Vier Wochen später steht er wieder auf dem Sportplatz in Vaterstetten. Grauer Himmel, dunkelrote Tartanbahn, Guido Müller ist fokussiert, er läuft los, wechselt in den Sprint und nimmt die Hürden. Die verletzte Netzhaut scheint ihn kaum noch zu behindern, Müller kann wieder auf beiden Augen sehen.

Seinen Trainingsplan möchte er einhalten, denn den Sport betreibt er nicht nur, um fit zu bleiben. In seiner Altersklasse gehört er nicht nur zur internationalen Elite, er ist die absolute Weltspitze. In den Disziplinen Kurzstrecke und Hürdenlauf gibt es international kaum jemanden, der ihm das Wasser reichen kann. Seine Bilanz: 95 Goldmedaillen bei Europameisterschaften, 44 Weltmeistertitel, Weltrekorde auf 200 Meter, 400 Meter und im Hürdenlauf. 2014 wurde er vom Leichtathletikweltverband zum dritten Mal als Seniorenweltsportler des Jahres gewählt.

Ein Frühlingstag im Leichtathletikstadion Vaterstetten, Guido Müller sitzt auf einer Holzbank und zählt seine Rekorde auf. Er ist der einzige, der die 400 Meter mit über 70 unter einer Minute gelaufen ist. "Meine Zeit konnte seit acht Jahren niemand brechen", sagt er. Müller hat ein Ziel: Erster zu werden. Das treibt ihn an, die Chance auf den Sieg, und das Risiko, nur auf Platz zwei zu landen. Ob er denn jeden Wettkampf gewonnen hat, zu dem er angetreten ist? "Fast", sagt er und kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Müllers Augen leuchten, Gold, das ist seine Farbe.

Als Leichtathletikwunder möchte er sich aber nicht sehen. Er ist Leistungssportler und sein Schlüssel zum Erfolg liegt in eiserner Trainingsmoral. Natürlich müsse man ein Talent haben, so Müller, und medizinisch fit sein - körperlich fühle er sich 30 Jahre jünger -, doch alles andere sei harte Arbeit. "Diese Tatsache macht die Leute mundtot, die mir den Erfolg nicht gönnen", sagt Guido Müller, der 78-Jährige. Das größte Hindernis ist nicht seine Motivation, sondern das Wetter. Bei Regen und Schnee muss er notgedrungen auf die Halle ausweichen, es sei aber auch schon vorgekommen, dass er mit Spikes auf vereister Bahn gelaufen ist.

Nun lebt er in Waldtrudering bei München und trainiert seit 35 Jahren beim TSV Vaterstetten. Begonnen hat seine sportliche Karriere aber bereits Anfang der 50er Jahre, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, da war Guido Müller elf Jahre alt und lebte in Kornwestheim bei Stuttgart. Zu Beginn war seine Leistung nicht außergewöhnlich, sagt er, "ich habe mich nach oben gearbeitet". Mit 17 Jahren gewann er die württembergischen Jugendmeisterschaften in der 400-Meter-Distanz. "Dieser erste Erfolg hat mich motiviert. Von da an ging es langsam, aber stetig bergauf", so Müller. Jedes Jahr wurden seine Zeiten besser, bis er 1964 nur knapp an der Qualifikation für die Olympischen Spiele in Tokio gescheitert ist, damals war er 25.

Den Rückschlag nahm Müller zum Anlass, um sich nun hauptsächlich auf seinen Beruf zu konzentrieren. Als gelernter Schuhfachmann arbeitete er in New York und heiratet seine heutige Frau, bevor sie zusammen nach Waldtrudering zogen. Doch mit Mitte 40 fehlte ihm etwas in seinem Leben. Müller sagte: "Damals hatte ich ziemlich zugenommen und sehnte mich nach sportlicher Betätigung." Kurz entschlossen meldete er sich beim TSV Vaterstetten und begann nach fast 20 Jahren Pause wieder intensiv zu trainieren.

Schon nach einem Jahr wurde sein Fleiß bei den deutschen Seniorenmeisterschaften belohnt. Er gewann in zwei Disziplinen und stellte gleich neue Rekorde auf. "Niemand kannte mich und ich, ich habe alle überrascht", sagt Müller. Fast 40 Jahre ist das her, mittlerweile ist er in der Szene weltweit bekannt und zum "Gewinnen verdammt", wie er sagt. Es herrsche ein regelrechter Erfolgsdruck.

Bei all den Erfolgen blickt er realistisch in die Zukunft. Eigene Bestzeiten steigern kann er kaum noch. Für ihn ist in erster Linie wichtig, das Niveau zu halten und körperlich stabil zu bleiben. "Dabei muss ich meine Grenzen kennen", sagt er. Dass diese immer enger werden, bemerkt er vor allem an der Regeneration: Längere Pausen, mehr Dehnen und taktisches Laufen in den Vorrunden, damit er im Finale die volle Leistung abrufen kann. "Mit jedem Jahr komme ich dem Zeitpunkt näher, an dem es nicht mehr klappt, dann muss ich auch den Mut haben aufzuhören", sagt der 78-Jährige. Am obersten Ende stand er so lange wie kaum ein anderer, mit Platz drei oder vier möchte er sich nicht zufrieden geben. Doch bis es soweit kommt, zeigt er noch vollen Einsatz. Höhepunkt der Sommersaison ist die Europameisterschaft in Dänemark. "Fünf Goldmedaillen wären schön", sagt er. "Dann hab ich die 100 voll".

© SZ vom 06.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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