Vaterstetten:Dem Tod auf der Spur

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Die Erfahrung schweren Verlusts verbindet die Autoren Andrea Tretner und Martin Kreuels. (Foto: privat)

Doppellesung mit Andrea Tretner und Martin Kreuels in Vaterstetten

Von Peter Kees, Vaterstetten

Es war der französische Philosoph Michel de Montaigne, der für ein gutes Leben die Auseinandersetzung mit den letzten Dingen voraussetzte. Sterben lernen bedeutete für ihn, sich an den Gedanken der eigenen Sterblichkeit zu gewöhnen und damit leben zu lernen. Doch nach wie vor scheint es Vielen unbequem zu sein, sich mit Tod und Sterben zu befassen. Ein Thema, das wir lieber verdrängen und totschweigen. Vielleicht war die vom Netzwerk Trauer des Katholischen Kreisbildungswerks initiierte Doppellesung im Pfarrheim Vaterstetten deshalb auch nur spärlich besucht. Gleichwohl war sie spannend und intensiv: Andrea Tretner und Martin Kreuels lasen autobiografische Texte und luden anschließend zu einem Dialog über Tod und Sterben.

Kreuels hat seine Frau verloren, Tretner ihren Mann. Beide Partner starben nach schwerer Krankheit. Das änderte das Leben der beiden Autoren grundlegend. Der Biologe Kreuels gab seinen Beruf auf - er fand in der Wissenschaft keine Antwort auf viele quälenden Fragen - schrieb seine Geschichte nieder und wurde Post-Mortem-Fotograf. Auch die Landschaftsarchitektin Tretner hängte ihren Job an den Nagel und absolvierte eine Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie. Außerdem publizierte sie ein Buch, "Wer nicht fragt, stirbt dumm", in dem sie ihre Geschichte mit Antworten von teils namhaften Persönlichkeiten auf Fragen zu Tod und Sterben, wie sie vielleicht Kinder stellen würden, verwebt. Wie sieht der Tod aus, wo wohnt er, oder wo würden Sie am liebsten sterben?, sind nur einige dieser Fragen, auf die immerhin Anselm Bilgri, Wilhelm Schmid oder Walter Kohl geantwortet haben.

Männertrauer ist das Motiv von Martin Kreuels, der Projekte zu diesem Thema in einem Hamburger Hospiz veranstaltet. Was denken Männer vor dem Tod? Was er in Vaterstetten las, war die Aufarbeitung der eigenen Geschichte: Wie er seine große Liebe kennenlernte, mit ihr Kinder in die Welt setzte und wie die beiden gemeinsam alt werden wollten - ein Traum, der jäh zerplatzte. Kreuels' Frau starb 2009, 41-jährig. Was kommt danach? Wie geht man mit solch einem Verlust um? Wie sorgt man für die Kinder? Als Kreuels begriff, dass seine Frau sterben würde, begann er mit einem Tagebuch, um sich seine Gedanken aus dem Kopf zu schreiben. Einsamkeit, Verzweiflung prägten viele Stunden. Als er das letzte Mal neben seiner Frau lag, war ihr Körper kalt. Es war sein Sohn Anton, der ein Foto von seiner toten Mutter machte, ein Bild, das den Vater veranlasste, sich mit seiner Geschichte in die Öffentlichkeit zu begeben. Warum hat er seine tote Frau nicht selbst gewaschen? Warum geben wir unsere Toten in fremde Hände? Wir verlieren dadurch unsere Mündigkeit, so Kreuels' Sicht. Mit Lesungen versucht er seither, Menschen auf dieses unweigerliche Ereignis vorzubereiten. Man spürte: Der Tod ist nicht wirklich zu begreifen.

Andrea Tretner verlor ihren Mann, als er 38 Jahre alt war. Von einem jahrelangen Leidensweg möchte sie allerdings nicht sprechen. Denn wie jede große Krise, so beinhalte auch der Sterbeprozess die Möglichkeit zum Wachstum. Das Sterben, so Tretner, öffne einen Weg, der zu sich selbst führen könne, zum Wesentlichen. Die Liebe beispielsweise befreie sich in diesen Zeiten von allen Erwartungen und sei tragfähiger denn je. Plötzlich laufe man nicht mehr wie ein Lemming nur den Verheißungen der Gesellschaft hinterher. Die Angst vor dem Tod sei eine Urangst, der sich jeder irgendwann stellen müsse - und je früher man das tue, nicht flüchte und verdränge, desto weniger anstrengend könne das Ende werden. Tretner erzählt jedoch nicht nur Privates, sie hat bemerkenswerte Antworten auf vermeintlich simple Fragestellungen gesammelt. Sollen wir uns den Tod vorstellen oder nicht? Die Autorin meint ja. Ihre Quintessenz - ganz mit Montaigne: Die Frage, wie wir leben wollen, sei eng verknüpft mit der Frage, wie wir sterben wollen. Außerdem gehe es darum, Frieden damit zu schließen, dass wir endlich sind.

Der den beiden Leseblöcken folgende Dialog zwischen Andrea Tretner, Martin Kreuels und dem Vaterstettener Publikum hätte wissbegieriger und interessierter nicht sein können. Endlichkeitsbewusstsein vermittelt wohl tatsächlich das Gefühl des Lebendigseins.

© SZ vom 17.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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