SZ-Serie: Der Adventsreporter, Folge 4:Ein Abend bei der Kräuterhexe

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"Mit Rauch kann man viel an Schwingungen verändern", verrät Marlene Englhart-Schweiger den Teilnehmerinnen ihres Kurses. (Foto: Christian Endt)

In ihrem duftgeschwängerten Laden in Grafing gibt Marlene Englhart-Schweiger bei Räucherkursen Einblicke in eine Welt voller Mystik. Für fast alle Lebenslagen kennt sie das richtige Mittel

Von Anselm Schindler, Grafing

Mit einer großen Feder fächert Marlene Englhart-Schweiger den Frauen im Raum süßlichen Rauch zu. Er quillt aus einer steinernen Schale, riecht nach Orient, nach würzigen Kräutern, nach Entspannung. "Na?" fragt sie erwartungsvoll. Englhart-Schweiger will lieber Marlene genannt werden, etwas anderes würde zu der 55-Jährigen auch nicht passen, wie sie da steht, in ihrem liebevoll eingerichteten, vor Kräuter, Tinkturen und ätherischen Ölen überquellenden kleinen Laden am Grafinger Urtelbach. Gerade in der Vorweihnachtszeit ist Marlenes Kräuter-Hütt'n Grafing, so der treffende Name des Geschäftes, an so manchem Abend überlaufen.

An diesem Abend, es ist ein unwirtlicher Donnerstag, sind 14 Frauen zum Ausräucher-Kurs gekommen. Es ist einer von vielen Abenden, an denen Marlene in ihrem kleinen Geschäft Grundkurse für energetisches Räuchern anbietet. Beim Räuchern verglimmen Kräuter über einem Stück Kohle. "So wie man es in vielen Kulturen überall auf der Welt schon seit langer Zeit gemacht hat", wie Marlene erklärt. "Da werden feinstoffliche Energien frei", sagt sie, während sie zart in ein Kräuter-Döschen greift. "So viel, wie man mit drei Fingern nehmen kann", das ist die Faustregel für die Menge der Kräuter, die verraucht werden. Und gründlich müsse man sein, "die Energien verstecken sich auch in den Sofa-Ritzen", warnt Marlene.

Manchmal geschehe es, berichtet Marlene, dass sich Seelen nicht lösen könnten. Es sind die Seelen und negativen Energien der Ahnen, denen das Ausräuchern dabei helfe, sich zu lösen. Nach dem Räuchern weise ihnen eine Kerze an der Haustür den Weg nach draußen. Das jedenfalls sind die grundlegenden Annahmen. Darüber erhebt sich ein Geflecht von Mythen, Sagen und Versatzstücken philosophischer und religiöser Anschauungen. Ying und Yang sind dabei, Meditation, Perchten, Aura, heilige Hölzer, Hexen und Astrologie. Und natürlich Kräuter, immer wieder Kräuter. Sie hängen von der Decke der Kräuter-Hütt'n, sind Motiv diverser Bücher, sie befinden sich, zermahlen und zerkleinert, in den vielen Döschen, Gläschen und Beutelchen, die Marlene zum Verkauf anbietet.

Mit dem Unverständnis, mit dem manche Menschen Marlenes Arbeit begegnen, hat sie umgehen gelernt, "nenn mich ruhig eine Kräuterhexe, ich hab da kein Problem damit", sagt sie und lacht. Und die Menschen, die kein Verständnis haben für metaphysische Energien, Geister und Ahnen? "Das sind Schwarz-Weiß-Denker." Man müsse nur genau "hin spüren", sagt Marlene. Um ihren Hals hängt ein Amulett, eine Feder steckt im blond-grauen Haar, das in Strähnen aus der Frisur auszubrechen versucht. "Mit viel Rauch kann man Schwingungen verändern", sagt sie und beugt sich über den Tisch in der Mitte des Raums, um eine Kohle anzuzünden.

Das Räuchern hat Tradition in unseren Breitengraden, es ist älter als Maibaum und Lederhosen. Ein Relikt vorchristlicher Zeit, die von Mythen, von Hexen und Geistern geprägt war. Marlene kann stundenlang von diesen Mythen erzählen, von den Raunächten beispielsweise, die den Vorhang zum Ahnenreich öffnen. In den Raunächten, also den Nächten um Neujahr, "holen die wilden Heere die guten Seelen ab. Da sterben viele gute Leute in dieser Zeit", sagt Marlene mit andächtigem Tonfall. Die Räder sollen still stehen in diesen Tagen, auch auf das Wäschewaschen solle man in dieser Zeit verzichten, rät sie.

Die, die in die Kurse von Marlene kommen, sind auf der Suche. Nach sich selbst, nach Ruhe, nach Kraft. Diese Suche ist gewissermaßen Marlenes Geschäftsmodell, das alte Wissen um die Kräuter und ihre Wirkung auf die Welt der Geister, der Ahnen und des Himmels ist ihre Mission. Es ist die Suche nach etwas Heiligem, etwas Wahrem in einer entfremdeten, immer komplexeren Welt. Auch Marlene selbst hat durch diese Suche zu den Kräutern und Geistern gefunden. 29 Jahre lang leitete sie in Grafing einen Blumenladen, dann, irgendwann, habe sie zu sich selbst gesagt: "Es reicht!", berichtet sie. Es folgten Besuche bei Kräuterfrauen, Einsiedlern und Schamanen, "ich wollte meine Wurzeln finden", erinnert sich Marlene an diese Zeit.

Das Räuchern bietet Lösungen: Für fast alle Lebenslagen gibt es Kräutermischungen. Engelwurz lindert Depressionen, das Harz des asiatischen Kampferbaums klärt den Geist, Fichtenharz wiederum soll man vor allem bei Ahnenritualen einsetzen. Marlenes Zuhörerinnen nicken begeistert. Bevor sie die Kräuter-Hütt'n an diesem Abend verlassen, werden sich einige von ihnen noch mit Kräutermischungen, Kohlen und anderen Räucher-Utensilien eindecken. Sie stellen viele Fragen, zum Mischverhältnis von Kräutern oder zum korrekten Verglimmen. Die Frage nach Beweisen für die Wirksamkeit des Ausräucherns aber stellt niemand. Doch wer glaubt, braucht solche Nachweise nicht. Duftende Rauschwaden wabern durch die Luft, sie erzeugen ein heimeliges Gefühl, und plötzlich ist alles möglich. Die kalte Welt da draußen scheint meilenweit entfernt zu sein. Beim Verlassen des Geschäftes klingelt es kurz, Ernüchterung. Die Welt da draußen ist immer noch die gleiche.

© SZ vom 12.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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