SZ-Adventskalender:Das verlorene Lächeln

Lesezeit: 4 min

Das Krankenhaus, Arztbesuche und Medikamente sind für Jonas überlebenswichtig. (Foto: Catherina Hess)

Eine unheilbare Stoffwechselkrankheit vernichtet alles, was Jonas erlernt hat. Zuerst konnte er nicht mehr sprechen, dann nicht mehr laufen. Nun kann er auch seine Gefühle nicht mehr zeigen. Für die Eltern ist jeder Tag mit dem Fünfjährigen eine neue Herausforderung - und ein Geschenk.

Von Christina Seipel, Poing

"Lasst uns froh und munter sein", erklingt eine fröhliche Mädchenstimme durch die weihnachtlich geschmückte Wohnstube. Adventszeit. Familie H. feiert sie so wie in jedem Jahr. Während die dreijährige Thea ausgelassen mit der Mutter singt, streichelt der Vater zärtlich die kleine Hand ihres älteren Bruders. "Hörst du die schönen Weihnachtslieder", sagt er mit sanfter Stimme und einem Lächeln. Jonas Blick wandert behutsam von links nach rechts.

Eine Geste, die zeigt, dass er etwas vernimmt. Wenn er könnte, würde der Fünfjährige seine Freude sicher anders äußern. Doch das geht nicht mehr. Die Miene des Jungen im Therapiestuhl bleibt ernst. Vor etwa einem Monat hat er aufgehört zu lächeln. Wie gut er noch hören und sehen kann, können die Eltern nur erahnen. Sie haben gelernt damit umzugehen. "Dass er allmählich abbaut, bringt die Krankheit mit sich", sagt der 34-Jährige gefasst.

Ein Jahr ist es nun her, da hat Jonas selbst noch Lieder gesungen und gemalt, ist gelaufen und mit dem Fahrrad gefahren. Bis die Diagnose im Oktober 2015 alles veränderte, war er ein ganz normales Kind. Die U-Untersuchungen, bei denen Ärzte die geistige und motorische Entwicklung von Kindern prüfen, seien immer unauffällig gewesen, erinnert sich Mutter Katja H. Im September vergangenen Jahres litt Jonas plötzlich unter Wortfindungsstörungen. Der damals Vierjährige merkte selbst, dass mit ihm nicht etwas stimmt: "Mama, mein Kopf, mein armer Kopf", habe er geklagt. Nur drei Monate später hat er aufgehört zu sprechen. Seit April ist er auf einen Rollstuhl angewiesen.

Wenn Kinder erworbene Fähigkeiten plötzlich wieder verlieren, sei das immer ein schlechtes Zeichen, hatte der Kinderneurologe des Sozialpädiatrischen Zentrums im Münchner Klinikum Dritter Orden damals gesagt. Innerhalb von einer Woche lag der niederschmetternde Befund vor: Jonas leidet an einer Art der Leukodystrophie, eine seltene, genetisch bedingte Stoffwechselkrankheit, die zunehmend die Funktion der Nervenleitfähigkeit beeinträchtigt und unheilbar ist.

Die Diagnose war ein Schock

Die Diagnose sei "ein riesiger Schock" und Erleichterung zugleich gewesen, sagen die Eltern: "Endlich hatten wir eine Erklärung für sein Verhalten." Zuvor hätten sie Jonas auch mal Unrecht getan. Dann, wenn er Dinge nicht so umsetzen konnte wie früher, weil er nicht mehr in der Lage dazu war, zum Beispiel sich seine Jacke selbst anzuziehen.

Die Krankheit hat das Leben der Familie grundlegend verändert. "Wir haben gelernt, den Moment zu genießen", sagt die 37-Jährige. Einen Ausflug ins Legoland haben sie nun nicht mehr auf die lange Bank geschoben. Zudem konnte das Ambulante Kinderhospiz München (AKM) in Zusammenarbeit mit dem Flughafenverein München und der Aktion Kindertraum einen Herzenswunsch realisieren: "Jonas wollte schon immer einmal fliegen", berichtet die Mutter. Die Flugreise nach Hamburg und eine Privatführung über den Münchner Flughafen, die durch Spendengelder finanziert wurden, waren unvergessliche Erlebnisse für die ganze Familie.

Mit den zunehmenden Einschränkungen bedingt durch das schnelle Voranschreiten der Erkrankung hatten sie immer wieder gravierende Rückschläge zu verkraften. Der ungewisse Krankheitsverlauf verlangt ihnen einiges ab. Immer wieder müssen sie sich mit einem neuen Ist-Zustand abfinden. Sehr anstrengend und leidvoll sei die Zeit gewesen, bis Jonas medikamentös eingestellt war, erinnert sich Katja H. Der Fünfjährige litt unter starken Nervenschmerzen, Muskelkrämpfen und konnte nicht mehr durchschlafen.

Jonas selbst trage sein Schicksal mit großer Gelassenheit und Fassung, wie der Vater berichtet. Dabei geholfen hat ihm sicher auch die Akzeptanz der seltenen Erkrankung durch seine Eltern. Ehrlich und kindgerecht hatten Katja und Jan H. ihm jeden Schritt erklärt. Da er mittlerweile nicht mehr richtig schlucken kann, wird er über eine Magensonde ernährt. Seine Eltern sagten ihm, dass er eine "Wassertankstelle" bekommen würde. "Es gibt Bilder aus dem Krankenhaus, wo man sieht, dass er sich darauf freut", erinnert sich Jan H., während ein kleines Lächeln über sein Gesicht huscht.

Die bürokratischen Wege sind lang

Zur Sorge um ihren Sohn kommt eine Vielzahl gesetzlicher Hürden, die Katja und Jan H. immer wieder vor neue Herausforderungen stellt. Aus Erfahrung wissen sie: "Die bürokratischen Wege sind lang." Das Gesundheitssystem sei für den schnellen Verlauf der Erkrankung nicht gedacht. Viel zu lange hatten sie auf die Zusage der Krankenkasse für einen Rollstuhl und eine Individualbegleiterin im Kindergarten warten müssen. Der Fußsack für den Rollstuhl, den sie im August beantragt hatten, sei auch noch nicht genehmigt worden.

Unterstützung im Alltag erfahren Katja und Jan H. durch einen ambulanten Kinderpflegedienst, eine ehrenamtliche Familienbegleitung des Ambulanten Kinderhospiz' und eine ehemalige Krippenerzieherin der Kinder. Großen Einsatz gezeigt, habe auch das Awo-Kinderhaus in Poing, das Jonas bereits vor dem Ausbruch der Krankheit besucht hatte, loben die Eltern.

Bis der Junge im Frühling dieses Jahres endlich eine Individualbegleiterin bekam, hätten die Mitarbeiter trotz seiner zunehmenden Immobilität alles alleine gestemmt, um ihm den Besuch seiner Kindergartengruppe weiterhin zu ermöglichen. Die vertraute Umgebung tut Jonas offensichtlich gut. Berührungsängste kennen seine Freunde nicht. "Für die anderen Kinder ist das normal", sagt der Vater.

Damit Jonas vom Sitzen im Rollstuhl keine keine Druckstellen bekommt, wünscht sich die Familie eine Matratze für den Kindergarten, die speziell auf seine Bedürfnisse angepasst ist. Und mit genügend Platz für seine Freunde. Die legen sich mittags nämlich gern mal um Jonas herum, um mit ihm zu kuscheln, wie der Vater erzählt. Auch kindgerechte Bücher zum Thema Tod für seine Kindergartenfreunde wären sinnvoll. Denn: "Es wird auf sie zukommen", erklärt Katja H.

Die Eltern versuchen alles, um Jonas weiterhin am normalen Alltagsgeschehen teilhaben zu lassen. "Wir nehmen ihn überall mit, auch wenn es ein wenig aufwendiger ist", sagt der Vater. Für seine Schwester ist Jonas der geblieben, der er immer war: Ihr großer Bruder. Mit seinen Einschränkungen geht sie so kreativ wie selbstverständlich um, legt ein Puzzel auf den Tisch und sagt: "Papa, kannst du für Jonas puzzeln". Manchmal setzt sich Thea auch neben Jonas und schaut mit ihm in Buch an, so gut wie es eine Dreijährige eben kann. Es ist der Alltag, der Jonas gut tut.

© SZ vom 29.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: