SZ-Adventskalender:Angst frisst kleine Seelen auf

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Drei Kinder leiden, weil ihr alkoholkranker Vater seinen jüngsten Sohn fast ertrinken ließ und der Mutter immer wieder auflauert

Karin Kampwerth

Ebersberg"Manchmal rechne ich in Wurstscheiben." So beschreibt Corinna D. (alle Namen geändert) ihren täglichen Kampf. Nicht ums Überleben, nein. Aber darum, ihren drei Kindern eine gescheite Brotzeit mit in die Schule zu geben, obwohl das Geld hinten und vorne nicht reicht. Da müsse die Wurst eben genau abgezählt werden, damit für die beiden acht und neun Jahre alten Buben und die zwölfjährige Tochter auch am nächsten Tag noch ein Pausenbrot drin ist, das satt und stark macht. Ganz schlimm aber sei es, wenn der Winter kommt und alle drei gleichzeitig wachsen. Warme Stiefel für alle zu kaufen, sprengt das Budget. Zumal der Schulanfang noch nicht lange zurückliegt. "Auch wenn ich für jedes Kind 100 Euro extra bekomme, kann ich davon längst nicht alles bezahlen, was die Schulen an Material verlangen."

Corinna D. lebt von Hartz IV, doch das scheint ihr geringstes Problem zu sein. Sogar einen Vorteil ringt sich die 35-Jährige ab: "Wenn man wenig Geld zur Verfügung hat, besinnt man sich auf die wirklichen Werte im Leben. Die möchte ich an meine Kinder weitergeben." Doch die Fassade einer kleinen, glücklichen Familie, die Corinna D. jeden Tag aufs Neue mühsam aufbaut, ist auf wackligem Fundament gebaut. Die Jahre, die hinter ihr liegen, waren geprägt von Angst. Um sich und die Kinder.

Corinna D. hat jung geheiratet, die Kinder kamen schnell. Den Mann, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte, kannte sie aus ihrer Jugend. Corinna D. kommt selber aus schwierigen Verhältnissen. Die psychisch labile Mutter zog beinahe jährlich mit der Tochter um. "Ein Zuhause kannte ich nicht", resümiert Corinna D. Umso stärker war die Sehnsucht nach einem Heim, nach einem Partner, auf den Verlass ist, nach echter Liebe. Die hat Corinna D.'s Ex-Mann ihr anfangs offenbar geben können. Deshalb blendete sie aus, dass er ein Drogenproblem mit in die Beziehung brachte. Als die Kinder auf die Welt kamen, griff Wolfgang D. immer öfter zur Flasche, kam heim, wann es ihm passte. Von der Frage, was passierte, wenn er wieder volltrunken im Hausflur stand, lenkt Corinna D. ab. Nur so viel sagt sie: "Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich mit den Kindern in ihrem Zimmer verbracht und Geschichten vorgelesen habe. Und wenn ich dann den Schlüssel im Schloss gehört habe, ging mein Pumpe los." Die zierliche junge Frau macht eine Faust und hämmert sich stakkatoartig auf die Brust.

Größer als die Sorge um das eigene Wohlbefinden war die Angst um die Kinder. Doch erst ein dramatisches Erlebnis gab ihr die Kraft, Wolfgang D. zu verlassen. Während sie in der Arbeit war, überließ sie dem Ehemann den damals einjährigen jüngsten Sohn. Statt sich um den Kleinen zu kümmern, ließ sich Wolfgang D. volllaufen. Unbeaufsichtigt fiel der Bub in einen kleinen Weiher im Garten. Wie lange das Kind darin gelegen hat, wie lange er keine Luft bekam, weiß Corinna D. bis heute nicht. "Alles halb so wild", hatte Wolfgang D. am Abend lallend abgestritten - den apathisch wirkenden Sohn nicht weiter beachtend. Dass der Bub psychische und physische Schäden davongetragen hat, wird erst später klar. "Mit vier Jahren konnte er noch nicht sprechen", erzählt Corinna D. Nach Vermutung der Ärzte eine Folge des Sauerstoffmangels. Heute besucht er eine Förderschule.

Aber auch die beiden älteren Kinder leiden. "Sie haben große Verlustängste", erzählt Corinna D. Eine Reha nach einer Wirbelsäulenverletzung musste sie abbrechen. Obwohl die Kinder bei guten Freunden untergebracht waren, sei die Situation eskaliert. Der Sohn habe im Kindergarten geschrien und um sich geschlagen, bei der Großen seien, schon bevor die Mutter die Kur angetreten hatte, die Schulnoten in den Keller gesackt. "Sie haben so Angst, dass ich nicht wiederkommen könnte", glaubt Corinna D.

Das Trauma der Kinder, die Furcht, dass der Mama etwas passiert, weil sie all dem nicht mehr gewachsen sein könnte, liegt auch an dem permanenten Druck, unter dem Corinna D. die vergangenen Jahre gelebt hat. Immer wieder lauerte der Ex-Mann ihr auf. Im Supermarkt tauchte er genauso auf wie vor der Haustür. "Immer hat er gejammert, dass er die Kinder sehen will", erzählt Corinna D. Bis sich das Jugendamt einschaltete, weil es von der Schule auf die belastende Situation aufmerksam gemacht worden war. Die Behörde schickte zunächst eine Familienhelferin, die Corinna D. auch darin unterstützte, ein Umgangsverbot für den Vater einzuklagen. Wolfgang D. stand immer wieder unangemeldet und volltrunken vor der Tür. Auf der anderen Seite hielt er sich weder an vereinbarte Besuchstermine im Rahmen eines vom Jugendamt begleiteten Umgangs, noch erschien er zu einem einzigen Gerichtstermin. "Für die Kinder war das schlimm", sagt Corinna D. Wie oft hätten sie gewartet, dass der Papa kommt, weil er es doch versprochen hatte. "Immer wieder wurden sie enttäuscht."

Inzwischen hat das Jugendamt die Familie in die Hände des Ebersberger Kinderschutzbundes übergeben. Eine ehrenamtliche Familienpatin steht Corinna D. nun jeweils zweieinhalb Stunden pro Woche zur Verfügung und verschafft der jungen Frau Luft, einfach einmal durchzuatmen. Doch auch, wenn die inzwischen 25 Patinnen freiwillig helfen, muss ihre Ausbildung professionell gestaltet und begleitet werden. Dafür ist der Kinderschutzbund auf Spenden angewiesen. Corinna D. ist dankbar für die Unterstützung. "Ich weiß gar nicht, wie ich es ohne sie schaffen sollte", sagt sie.

© SZ vom 30.11.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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