Suchtkranke im Landkreis Ebersberg:"Das Thema fällt einfach hinten runter"

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Kontaktbeschränkungen treffen Menschen mit Suchterkrankungen besonders hart. Die Sozialpädagogin Lena Müller-Lorenz vom Caritas-Zentrum Ebersberg erzählt im Interview, wie sich die Arbeit mit Betroffenen verändert hat

Von Johanna Feckl

Etwa 55 Menschen aus dem Landkreis Ebersberg kommen zur psychosozialen Begleitung (PSB) nach Grafing in die Fachambulanz für Suchterkrankungen der Caritas. Die PSB ist Teil einer Substitutionstherapie - so nennt man die Behandlung einer Drogensucht mit einem Ersatzmittel. Um die 20 der PSP-Klienten saßen bis vor Kurzem auch jeden Tag in der Substitutionsambulanz, die in Kooperation mit der Klinik für Suchtmedizin und Psychotherapie in Haar in den Räumen der Caritas eingerichtet ist. Seit 2017 können dort Patienten einer Drogenersatztherapie neben der psychosozialen auch die medizinische Behandlung erhalten. Durch Corona ist das alles anders. Lena Müller-Lorenz arbeitet seit sechs Jahren in der Fachstelle für Suchterkrankungen der Caritas. Die 30-Jährige ist federführend für die PSP verantwortlich, ebenso für die Substitutionsambulanz. Im Gespräch mit der SZ erzählt die Sozialpädagogin, was es mit Take-Home-Verordnungen auf sich hat und weshalb Telefonate oder Treffen im Freien mit ihren Klienten gar nicht so einfach sind.

SZ: Frau Müller-Lorenz, in Großstädten wird das Heroin knapp, weil es oft erst gar nicht mehr über die Grenzen nach Deutschland kommt und Dealer vorsichtiger geworden sind - in Zeiten, in denen weniger Menschen draußen sind, fallen sie mehr auf. Spüren Sie etwas von dieser Entwicklung bei Ihrer Arbeit?

Lena Müller-Lorenz: Wir bemerken schon, dass im Bereich der illegalen Drogen verschreibungspflichtige Medikamente seit einigen Wochen wieder beliebter werden. Das sind Medikamente, die eigentlich gegen Schmerzen oder als Beruhigungsmittel wirken, wie Arzneien aus der Gruppe der Benzodiazepine, zum Beispiel Valium. Die kann man sich leichter beschaffen und damit wird viel schwarz gehandelt, die Preise steigen im Moment sehr. Aber da gibt es auch abseits von Corona immer mal wieder Wellen - einen großen Einschnitt habe ich bislang nicht gemerkt.

Woran liegen solche Schwankungen, wenn nicht gerade Corona-Zeit ist?

Häufig sind das Umstände, die Menschen, die nicht in der Szene sind, gar nicht mitbekommen: Zum Beispiel gibt es weniger Einfuhr über die Grenze, weil größere Dealer ausgeschaltet wurden und im Gefängnis sitzen. Da greift dann eben auch das Prinzip: Das Angebot regelt die Nachfrage.

Gibt es wegen des Mangels an Rauschmitteln mehr Anfragen für eine Drogenersatztherapie in Ihrer Substitutionsambulanz?

Bei uns ist das nicht der Fall. Ich kann mir aber vorstellen, dass sich gerade an große Ambulanzen beispielsweise in München mehr Menschen wenden, um eine Zwischenversorgung zu bekommen. Die Anfragen, die wir erhalten, haben nichts damit zu tun, die Corona-Folgen abzufangen. Das sind zum Beispiel Menschen, die eine Entgiftung oder Therapie hinter sich haben und im Anschluss daran jetzt eben eine Substitutionstherapie in Anspruch nehmen möchten, weil sie merken, es klappt nicht mit der Abstinenz.

Inwiefern hat Corona die Abläufe der Behandlungen in der Substitutionsambulanz verändert?

Es gab von mehreren übergeordneten Stellen die Empfehlung, so weit es geht Take-Home-Verordnungen zu treffen ...

... das bedeutet, dass Betroffene das Drogenersatzmittel in der Ambulanz abholen und mit nach Hause nehmen können?

Im Prinzip, ja - nur, dass die Klienten ein Rezept vom Arzt bekommen und dieses dann in der Apotheke einlösen. Normalerweise kommen die meisten Klienten täglich, bekommen das Substitut vom Arzt und nehmen es vor seinen Augen ein. Aber nun sollen die Leute so wenig wie möglich zu uns kommen - um sich selbst, uns Mitarbeiter und unseren Arzt zu schützen. Viele unserer Klienten kommen auch mit der S-Bahn oder dem Zug, die Zahl der Fahrten wird natürlich eingedämmt, wenn sie nicht mehr so oft kommen müssen.

Für Lena Müller-Lorenz und ihre Kolleginnen und Kollegen ist die Arbeit schwieriger geworden. (Foto: Christian Endt)

Und wie haben Sie diese Take-Home-Regelung umgesetzt?

Wir haben individuell für jeden Klienten in langen Gesprächen entschieden, wie die Regelung aussehen wird. Manche kommen nun also alle drei oder vier Tage und holen sich das Substitut für diesen Zeitraum, bei manchen ist es auch ein Wochen-Rhythmus und wieder andere kommen aber weiterhin zur täglichen Vergabe, wenn wir das für notwendig empfinden. Wenn wir das Gefühl haben, dass ein anderer Rhythmus besser wäre, können wir das dementsprechend anpassen. Im Moment läuft das alles sehr gut.

Durch die Take-Home-Vergabe sind also die persönlichen Kontakte weniger.

Ganz genau. Es wartet nie mehr als ein Klient im Wartezimmer. Außerdem halten wir natürlich alle Abstands- und Hygienemaßnahmen ein. Wir versuchen auch, dass wir Urin- und Speichelproben im Moment sehr gering halten.

Birgt das aber nicht eine Gefahr? Also nach dem Prinzip: Wenn es keine Kontrollen gibt, dann kann ich ja jetzt zusätzlich zum Substitut aus der Drogenersatztherapie noch illegale Drogen konsumieren.

Das bleibt sich natürlich nicht aus, dass sich manche Leute "juhu" denken. Aber wenn wir denken, dass bei jemanden eine Speichel- oder Urinprobe angebracht ist, dann machen wir das ja auch.

Ein obligatorischer Pfeiler der Drogenersatztherapie ist die psychosoziale Begleitung, die Sie vonseiten der Caritas für den Landkreis Ebersberg anbieten. Normalerweise treffen Sie die Klienten dazu in regelmäßigen Abständen zu einem persönlichen Gespräch. Nun muss das ja größtenteils per Telefongespräch funktionieren. Geht da nicht einiges verloren?

Auf jeden Fall - und ich finde, das ist auch die wesentlich größere Auswirkung von Corona als die Drogenknappheit auf dem illegalen Markt. Während der Öffnungszeiten unserer Substitutionsambulanz ist eigentlich immer einer von uns Caritas-Mitarbeitern da, um bei Bedarf mit den Leuten, die kommen, zu sprechen. Ein sehr niederschwelliges Angebot, das wir aktuell nur in reduzierter Form machen können.

Stattdessen?

Wir haben die Möglichkeit, uns mit den Klienten im Freien zu treffen, auch da natürlich mit ausreichend Abstand und Mundschutz. Aber es ist immer die Frage, ob derjenige das auch will. Wenn wir auf dem Caritas-Parkplatz stehen, ist eben nie zu 100 Prozent gewährleistet, dass kein Dritter von dem Gespräch etwas mitbekommt. Vieles machen wir über das Telefon.

Gibt es da keine datenschutzrechtlichen Bedenken?

Wir müssen jedes Mal darauf hinweisen, dass ein Telefonat oder Videotelefonat nie ganz sicher sein kann. Bei einigen unserer Klienten ist das auch ein großes Problem, die haben noch Delikte offen und wissen, dass die Polizei ihre Gespräche mithört. Da versuchen wir schon, dass die Leute zu uns kommen und wir im Freien mit ihnen sprechen, bevor wir telefonieren, sie aber eigentlich gar nichts sagen. Aber der geschützte Raum, so, wie er bisher war, fällt in jedem Fall weg. Im Allgemeinen funktioniert das Telefonische aber recht gut und die Leute sind dankbar über dieses Angebot. Es hat sich einfach viel verändert.

Veränderung ist ein Stichwort: Menschen mit einer Suchtvergangenheit sind in den meisten Fällen psychisch nicht ganz so gut aufgestellt, wie Menschen ohne eine solche Vergangenheit. Das heißt, dass sie mit Veränderungen oft nicht gut umgehen können - und dazu gehört eben auch der Wegfall des analogen Kontakts. Steigert das also das Rückfallrisiko nicht enorm?

Ja, das ist schon ein großes Problem. Kurzarbeit, Kündigungen, finanzielle Sorgen, die ganze Zeit mit den Kindern zu Hause in zu kleinen Wohnungen, dann noch Home-Schooling - das sind Belastungen, die natürlich uns alle betrifft. Aber unser Klientel eben umso mehr, denn da bietet das ein Risiko, rückfällig zu werden, zusätzlich zur Drogenersatztherapie illegale Drogen zu konsumieren - wir nennen so etwas Beikonsum - oder das sich andere psychische Krankheiten wie Depressionen verstärken. Rückfallstrategien und Prävention haben wir zwar auch außerhalb von Corona immer im Blick, aber im Moment sind wir in diesen Bereichen sicher mehr gefragt. Es kommt ja auch hinzu, dass Freizeitangebote weggefallen sind. Viele geraten dadurch in eine völlige Isolation.

Um einer sozialen Isolation vorzubeugen, soll ja in den Räumen der Grafinger Caritas eine Kontakt- und Begegnungsstätte entstehen.

Ja. Das ist ein niederschwelliges und kostenloses Angebot mit tagesstrukturierenden Maßnahmen für Menschen, die suchtkrank sind und zum Beispiel nicht mehr am primären Arbeitsmarkt teilnehmen können. Das bietet einen sicheren Rahmen für Kontakte, wir gestalten ein Freizeitangebot wie etwa gemeinsames Kochen und Essen. Nebenher können wir beraten und weitervermitteln - für viele kommt durch solch einen solchen Treffpunkt der Kontakt zu einer Beratungs- oder Hilfsstelle erst zustande.

Fällt das Projekt nun Corona zum Opfer?

Grundsätzlich nicht, wir mussten den Start aber nach hinten verschieben. Ab Juni ist das Personal in diesem Bereich voll besetzt, dann werden die Räume noch eingerichtet und die allgemeinen Strukturen organisiert. Geplant ist, dass dann von Juli an Klienten auch offiziell in die Kontakt- und Begegnungsstätte kommen dürfen, natürlich immer unter Berücksichtigung der dann geltenden Anordnungen und Vorgaben bezüglich Corona.

Auch wenn es mit der Kontakt- und Begegnungsstätte vorangeht: Es sind dennoch ganz schön viele Veränderungen, die die meistens ohnehin schon prekäre Lage Ihres Klientels noch prekärer machen.

Unser Klientel ist eigentlich immer eines, das in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nicht sehr präsent ist: Drogenkonsumierende Menschen gehören nicht unbedingt zum Lieblingsthema der Leute. Aber sie sind ja dennoch da, auch zu Corona-Zeiten - und Corona hat die Situation unserer Klienten deutlich verschärft. Viele mussten zum Beispiel auch ihre geplanten stationären Entzüge verschieben, weil nur noch Notfälle aufgenommen wurden. Aber die Menschen sprechen nicht gerne darüber, das Thema fällt einfach hinten runter.

© SZ vom 19.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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