So hochaktuell wie mutig:Tutu und Trara im Überwachungsstaat

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Das "Niemandsland" am Markt Schwabener Gymnasium ist bevölkert von lauter "Someones", die ihrer absurden Welt ausgeliefert sind. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Oberstufentheater des Markt Schwabener Gymnasiums denkt sich ein dystopisches "Niemandsland" aus

Von Victor Sattler, Markt Schwaben

Die Schüler hatten bei ihrer Theateraufführung eine unheimliche Aktualität auf ihrer Seite: Just in den Tagen, in denen neue Enthüllungen offenlegen, wie das Verhalten von Millionen Menschen sich von Data-Firmen zum einen analysieren, zum anderen manipulieren lässt, wartet die Theatergruppe der Oberstufe am Markt Schwabener Gymnasium ausgerechnet mit einem eigenen, dystopischen Stück namens "Niemandsland" zum Thema Fremdbestimmung auf.

Allerdings schlachten die Schüler diese Brisanz nicht aus, vielmehr ist ihnen egal, ob überhaupt jemand ihre Performance begreifen und einordnen kann. Vor allem wollen sie damit irritieren und Stirnen runzeln. So klebt Viola Spahr minutenlang in aller Seelenruhe und mit höchster Präzision ein Himmel-und-Hölle-Feld aus Tape auf den Boden - aber wichtig ist das Hüpfspiel letztlich nicht. So eine Geduldsprobe ist mutig für ein Schultheater. Am deutlichsten wird die Haltung gegenüber dem Publikum, als ihm einfach eine schwarze Leinwand vor die Nase gehängt und so komplett die Sicht auf das Geschehen versperrt wird. "Es heißt doch immer, die Jugend solle mehr gehört werden", lacht Darstellerin Anna Matthiesen, nachdem der Vorhang gefallen ist, "aber uns versteht halt keiner mehr".

Bei all dem Triezen muss man sagen, dass die Inszenierung dem Erklärungssuchenden mit kleinen Indizien trotzdem eine faire Chance zur Interpretation gibt: Eine Lesung aus George Orwells Roman "1984 " über Überwachung und Gehirnwäsche legt den Grundstein, später, als Vera Empl ihre Scharade aus Mantel, Perücke und Schmuck ablegt und darunter auch nur ein "Someone" in so beschriftetem weißem Shirt ist, läuft der Queen-Song "Bohemian Rhapsody", der seit jeher den gesellschaftlichen Konventionen seine Fantastik entgegenhält. Und zu guter Letzt rezitieren die Darsteller Alfred Wolfensteins expressionistisches Sonett "Städter", was ungefähr der literarischen Epoche entsprechen könnte, die sie angepeilt hatten. Oder unterstellt man den Deutsch-Abiturienten da vielleicht zu viel an Fährtenlegerei?

Die erste Hälfte bedient eine Schach-Metapher und die schauspielerische Leidenschaft speist sich ganz in die Versuche, dem Gezogenwerden (eine Stimme aus dem Off bestellt die menschlichen Schachfiguren von E5 auf D7) und dem Geschlagenwerden (wenn eine gegnerische Figur finster zum Bauernopfer ausholt) zu trotzen. Aber es gelingt nicht, die Protagonisten sind ihrer Welt ziemlich ausgeliefert. In der zweiten Hälfte wird das Schachbrett zum Labyrinth, was eine Steigerung darstellt, denn die Wände müssen überhaupt erst hochgezogen werden, um sich von den anderen Figürchen und vom Determinismus abzuschotten. In dem Barrikaden-Irrgarten wird dann auch niemand glücklich, er sät nur Streit zwischen den Personen, die bei Wegfindung und Überleben plötzlich ganz auf sich allein gestellt sind.

Die Schüler sagen, sie kennen solche Weggabelungen und Zwänge aus ihrem Leben, immerhin mussten sie am selben Tag ihre Kolloquiums-Fächer belegen. "Das ist ein Thema, das jeden von uns beschäftigt. Wir sind in einer Phase, in der man seine Identität hinterfragt", erklärt Patricia Klotz. Die Initiative zu dem Stück ging von den Schülern aus, in Kleingruppen wurden die einzelnen Segmente geschrieben und aneinandergereiht, ganz am Anfang stand das aufregende Bühnenbild. Dass kaum jemand zur Premiere kam, ist doppelt schade, hätte man doch gleich noch andere Veranstaltungen im Schulkalender mit abhaken können: Daniel Streicher spielt Keyboard, alle singen hübsch im Chor und Emi-Lou Rogotzki tanzt - als die grauen Herren sie endlich von dem Seil lassen, an dem sie rumgezerrt wurde - in einem Tutu mit Lichterkette ihre ganze Freiheit heraus.

Befreit ist auch die Theatergruppe, die sich ein ernstes Thema zur Brust nimmt - Kontrolle durch Wissen - und dazu nahezu alles anhäuft, was Spaß macht, mal mehr, mal weniger Sinnvolles: Stroboskop, Schwarzlicht mit dazugehöriger Farbschlacht, eine Art Robo-Staubsauger und, warte, Gebärdensprache? Manche Kombinationen sind schräg, andere weit klüger als ihr erster Anschein. So haben die Schüler zum Beispiel das ganze Ausmaß der Sauerei von Stings oft missverstandenem Hit "Every Breath You Take" erkannt, wenn er auf Englisch singt: "Jeder Atemzug, den du nimmst, jede Bewegung, die du machst - ich werde dich beobachten." Die Markt Schwabener wandeln durch ihr selbsterbautes Labyrinth und singen "I'll be watching you" als eine beklemmende Niemandsland-Hymne. Mehr Orwellian geht nicht.

© SZ vom 23.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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